Vater Anonymus
Ethnologen wollen herausfinden, wie Samenspenden das Selbstbild von Männern verändern
Bis zu 100 000 Kinder sind Schätzungen zu Folge in Deutschland seit den 80er Jahren durch Spendersamen gezeugt worden. Der Samen junger Männer wird dabei in „Banken“ oder In-Vitro-Fertilisationskliniken gesammelt, getestet, optimiert, in tiefgefrorenem Zustand aufbewahrt, nach bestimmten Regeln weitergegeben und schließlich den Frauen eingeführt.
Doch obwohl sich die Methode medizinisch und rechtlich etabliert hat, ist das Wissen über die beteiligten Spender gering. Ihre Stimmen finden in bioethischen Debatten über den Transfer menschlicher Keimzellen wenig Gehör, obwohl die hier verhandelten Fragen Folgen für ihre Position haben können: Sollen durch anonymen Fremdsamen gezeugte Personen das Recht haben, die Identität ihres genetischen Erzeugers kennen zu lernen? Sind Ei- und Samenzellen gleich zu behandeln? Wie sollten sie gesellschaftlich bewertet werden: Als Ware, als natürliche Ressource – oder als ein Beziehungen stiftendes Geschenk?
Ein Studienprojekt am Institut für Europäische Ethnologie hat nun damit begonnen, diese Wissenslücken in ethnographischer wie historischer Perspektive zu füllen. Denn Zeugung mittels Spendersamen ist keineswegs ein neues Verfahren. Neben der schnellen Entwicklung in der Tierzucht gab es in Deutschland um 1910 auch erste Debatten um künstliche Befruchtung in der Humanmedizin. Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik förderte Forschung über Unfruchtbarkeit und ungewollte Kinderlosigkeit gezielt, Grundsteine für die heutigen Befruchtungsmethoden wurden gelegt. Seit dem Zweiten Weltkrieg kam es immer wieder zu Debatten über den ethischen Status künstlicher Befruchtung mit Spendersamen.
Im Mittelpunkt der Forschung stehen gegenwärtige Erfahrungen und Praktiken im Umgang mit Samenspenden und die mit ihnen Verbundenen sozialen und kulturellen Veränderungen. Durch das Aufbewahren menschlicher Samen und befruchteter Eizellen wird Fortpflanzung nicht nur planbar. Die Einlagerung menschlicher Keimzellen bei minus 196 Grad und das spätere Auftauen hält auch das „Ticken der biologischen Uhr“ an: Was lange als irreversible Grenze galt, wird jetzt potentiell gestaltbar und beweglich.
In Frage steht auch, wie die diagnostische und physische Klassifikation von Samen Männlichkeitsbilder und Selbstkonzepte verändert. Aus ethnologischer Perspektive interessant ist, wie die Spender selbst genetische Verbundenheit sehen. So besteht in Bezug auf die Anonymität von Samenspende in Deutschland eine Rechtsunsicherheit: die Bundesärztekammer empfiehlt Medizinern, die Daten der Spender 30 Jahre lang aufzubewahren, um sie gegebenenfalls an das Kind weitergeben zu können. Die Vereinten Nationen haben ein Recht auf genetisches Wissen deklariert, demzufolge allen erwachsenen Menschen die Möglichkeit eingeräumt werden muss, Informationen über ihre genetischen Erzeuger zu erhalten.
Auch veränderte Gesetzgebungen, beispielsweise in England, wo Samenbanken seit 2004 zur Archivierung von Informationen über anonyme Samenspender verpflichtet sind, forcieren eine Veränderung. Schließlich wird allmählich die erste Generation der durch Samenspenden in Kliniken Gezeugten erwachsen und beginnt, sich zu Wort zu melden. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, zu verstehen, was Anonymität und Nichtwissen für Spender wie durch die betroffenen Erwachsenen biographisch, sozial und kulturell bedeuten. Für das Projekt werden noch anonyme Samenspender für Interviews gesucht, auch Männer, die bereits seit den 50er Jahren bei einzelnen Gynäkologen oder seit den 80er Jahren in den frühen Samenbanken gespendet haben. Frederike Heinitz/
Markus Langenstrass
Kontakt zum Projekt unter der E-Mail michi.knecht@rz.hu-berlin.de oder Telefon 030-2093-3713 (14 bis 18 Uhr).
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/sonderthemen/archiv/14.04.2007/3166103.asp