Gefährliche Kräfte «kanalisieren»
Was haben afrikanische und appenzellische Heiler gemeinsam?
David Signer, St.Galler Tagblatt Juni 2005
Es ist verblüffend, wie viele Parallelen es zwischen dem afrikanischen und dem appenzellischen Heilwesen gibt. Ich habe von 1997 bis 2000 in mehreren westafrikanischen Ländern eine Forschung zum Thema Heiler und Hexer durchgeführt. Vor kurzem las ich nun den Aufsatz «För Hitz ond Brand» über Gebetsheilerinnen und Gebetsheiler in Appenzell Innerrhoden von Roland Inauen und fühlte mich dabei geradezu in die tropischen Dörfer zurückversetzt!
Die Macht des Wortes
Offensichtlich ist bei den Innerrhödler Heilern nicht so sehr die verabreichte Medizin, sondern das gesprochene Wort von zentraler Bedeutung. Das ist bei ihren Kollegen in Afrika genau so. Zwar werden auch dort Kräutertees verabreicht und Salben aufgetragen, aber diese Medikamente müssen immer erst mit religiösen Formeln «besprochen» werden, sonst sind sie wirkungslos.
Ganz generell wird dem Wort dort noch viel mehr als hier im modernen Westen eine unmittelbare, magische Wirkung zugetraut, wie das insbesondere bei Segnungen und Verwünschungen deutlich wird, die ja - zumindest was die Segnungen betrifft - auch im Appenzellerland immer noch eine wichtige Rolle spielen.
«Gris-Gris» und «Agnus Dei»
Neben dem Segnen und Besprechen spielen bei afrikanischen Heilungen immer auch Amulette eine wichtige Rolle, entweder als Prophylaxe, oder bei bereits Erkrankten als Schutz vor Rückfällen. Die Amulette werden im französischsprachigen Afrika «Gris-Gris» genannt, und ihre wichtige Rolle erklärt sich dadurch, dass die meisten Erkrankungen entweder auf bösartige Geister oder Hexen zurückgeführt werden.
Ganz wie die in Appenzell Innerrhoden «Agnus Dei» oder «Tüüfels Jageli» genannten Amulette, finden sie auch in Afrika vor allem bei Kleinkindern Verwendung, die als besonders verletzlich gelten. Daneben erwähnt Inauen Amulette mit Marder- und Wolfszähnen, als Abwehr gegen Dämonen. In Afrika bestehen die «Gris-Gris» gemeinhin aus einer Lederhülle mit einem beschrifteten Zettel drin sowie symbolträchtigen Ingredienzen, zu denen ebenfalls oft Teile von wilden Tieren gehören, die als besonders einschüchternd gelten, wie Löwenfell, Stachelschweinborsten oder Schlangenhaut.
Keine «Kriegserklärung»
Offenbar hält man in Appenzell Innerrhoden nichts davon, die bösen Dämonen zu «zerschmettern», weil dies einer Kriegserklärung gleichkomme. Vielmehr müsse man deren Opfern die Angst nehmen und für die Feinde beten. Das deckt sich genau mit der Haltung der meisten afrikanischen Heiler.
Im Gegensatz zu katholischen Exorzisten versuchen sie die gefährlichen Kräfte nicht zu vertreiben, sondern sie zu «kanalisieren» oder zu «domestizieren». Das heisst, man versucht zu verstehen, was sie wollen und warum sie hier sind. Dann wird ihnen beispielsweise ein Häuschen gebaut, wo man ihnen regelmässig Opfer darbringt. Manchmal wird der ehemalige Kranke dann sogar zum «Priester» des jeweiligen Geistes; das bedeutet, dass er zum Geist wie zu einem Kind schaut, und der Geist ihm umgekehrt als Bindeglied zur unsichtbaren Welt beim Heilen hilft.
Zwischen Gut und Bös
Interessant ist auch die Feststellung Inauens, dass einzelne Gebetsheilende unter Anfechtungen des Bösen zu leiden haben, ja, dass ihnen bewusst sei, sich in einem Grenzbereich zwischen Gut und Böse zu bewegen.
Eine Heilerin in der Elfenbeinküste erklärte mir einmal, ihresgleichen seien wie die Polizisten, die sich in die Mafia infiltrierten und am Ende selber riskierten, Mafiosi zu werden: «Man muss seine Feinde kennen, um sie bekämpfen zu können.» Sie sagte auch, die Hexerkraft und die Heilkraft seien im Prinzip identisch, nur die Verwendung sei unterschiedlich. Kommt hinzu, dass «Gut» und «Böse» oft relativ sind. «Jemand kommt zu mir, und möchte, dass ich seinem Chef das Maul stopfe, der ihn immer beschimpft», erzählte mir einmal ein Heiler aus Mali. «Das ist in Ordnung, oder? Aber wenn nun der bestrafte Chef seinerseits zu einem Magier geht, der nun gegen den Angestellten vorgeht, der nämlich aus seiner Sicht auch ein Bösewicht ist?»
Das deckt sich mit dem problematischen Fall des «Diebesbannens», das Inauen erwähnt. Wenn der Dieb solange nicht mehr urinieren kann, bis er das Diebesgut zurückgegeben hat: Ist das nun noch weisse oder schon schwarze Magie? Aus diesem Grund sind die Heiler in Afrika oft auch etwas schillernde, gefürchtete Figuren. Man traut ihnen alles zu.
Die Missgünstigen besänftigen
Noch bis weit ins 20. Jahrhundert war der Glaube an Hexerei auch im Appenzellerland ziemlich verbreitet. In Afrika werden Unglücksfälle und Krankheiten oft auf «böse» und insbesondere missgünstige Menschen zurückgeführt. Sehr oft kommen an sich schon schicksalsgeplagte Menschen ins Visier des Hexereiverdachts: Witwen, kinderlose Frauen, Arme, manchmal sogar Strassenkinder. Auch in diesem Falle plädieren die weiseren unter den Heilern allerdings nicht für Bestrafung, sondern verschreiben Opfer. Das heisst, der Patient, der vielleicht wegen seines plötzlichen Reichtums von einem Neider verhext wurde, muss beispielsweise ein Schaf schlachten und das Fleisch unter den Armen verteilen, um so die Missgünstigen zu besänftigen.
«Heusche dar me nütz»
Damit kommen wir zur Frage der Bezahlung des Heilers. Oft sagen die Heiler, es sei wichtig, dass der Patient etwas bezahle, denn «was nichts kostet, ist ihm nichts wert». Das Opfer, von dem auch der Heiler etwas bekommt, macht dabei oft den Hauptteil des Honorars aus. «Nebes gee sött me, aber heusche dar me nüz», sagt man in Appenzell. Das würden wohl auch die meisten afrikanischen Heiler unterschreiben; denn ihre Gabe haben sie schliesslich auch gratis bekommen, wie sie manchmal sagen.
Roland Inauen: «För Hitz ond Brand. Gebetsheilerinnen und Gebetsheiler in Appenzell Innerrhoden». In: Walter Irniger (Hrsg.): Kräuter und Kräfte. Heilen im Appenzellerland. 1995.
David Signer: Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt. Peter Hammer Verlag. 2004.
Person: David Signer
David Signer wurde 1964 in St. Gallen geboren. Später verbrachte er ein paar Jahre in Bühler und arbeitete als Volontär für das «Appenzeller Tagblatt» in Teufen. Er studierte Ethnologie und Psychologie in Zürich, wo er 1994 doktorierte. Längere Zeit arbeitete er im Flüchtlingswesen und als Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. Die Resultate seiner dreijährigen Forschung in Westafrika erschienen kürzlich unter dem Titel «Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt» (Peter Hammer Verlag). Die NZZ nannte das Buch ein «Schlüsselwerk zum Verständnis Afrikas». Heute arbeitet David Signer als Redaktor für die «Weltwoche». (apz)
Quelle: St.Galler Tagblatt (Text nicht mehr online)