Bedrohliche Schweiz
Damaris Lüthi, Ethnologin an der Universität Bern und Leiterin eines Forschungsprojekts zum sozialen Wandel der tamilischen Flüchtlinge in der Schweiz, über das Leben in zwei Welten.
Tamilen putzen Schweizer Büros, pflegen Schweizer Patienten und kochen Schweizer Spezialitäten. Daneben leben sie in einem Universum mit eigenen Gesetzen. Woher kommt diese Abgeschlossenheit?
Damaris Lüthi: Für die erste Generation ist die Hoffnung auf einen eigenen Staat in Sri Lanka wichtig – so wichtig, dass sie ihre Kultur im Gastland konservieren und die Anpassung vermeiden will. Diese Generation bleibt durch tamilisches Fernsehen und tamilische Zeitungen, traditionelle Rituale und Feste stets mit der Heimat verbunden.
Die Tamilen fürchten den Kulturverlust?
Lüthi: Ja, die Schweizer Gewohnheiten gelten als bedrohlich – die Sexualmoral und die Geschlechterbeziehungen, aber auch Trinken und Rauchen. Darum werden die jungen tamilischen Frauen möglichst zu Hause behalten und dürfen abends kaum weg, ausser in männlicher Begleitung, und sei das der kleine Bruder.
Warum gelten die Mädchen als stärker gefährdet?
Lüthi: Gemäss dem traditionellen Denken hängt das Ansehen der Familie vor allem von ihrem Verhalten ab und weniger von dem der Buben.
Wie bewältigen die Tamilen die Spannung zwischen ihren Traditionen und dem Schweizer Alltag?
Lüthi: Viele Familien stehen unter Druck; das führt immer wieder zu Problemen wie häuslicher Gewalt, Depressionen und Selbstmordrisiko. Andererseits gibt es in der tamilischen Gemeinschaft einen Freiraum, wo die Zwänge des Alltags nicht gelten: Wochenende für Wochenende bietet sich den Tamilen eine enorme Zahl von Familienfesten und Vereinsanlässen.
Und die Secondos und Secondas selber: Haben sie mehr Distanz zu den Traditionen?
Lüthi: Ja, für sie spielt der Wunsch nach Rückkehr kaum mehr eine Rolle. Die Ehe ist denn auch der einzige Bereich, wo das traditionelle Kastendenken auch für die zweite Generation im Exil noch wirksam ist. Andererseits führt gerade diese Distanz auch zu Schwierigkeiten innerhalb der Familien. Dass Jugendliche pubertieren und sich von ihren Eltern lösen, ist in Südasien unbekannt. Doch hier beginnen die jungen Tamilen wie ihre Altersgenossen zu pubertieren – mit dem Resultat, dass die erste Generation vor den Kopf gestossen wird.
Wenn die zweite Generation von den Traditionen abrückt: Verschwinden damit auch die kulturellen Bruchstellen?
Lüthi: Vermutlich. Die zweite Generation wird durch das Schweizer Bildungssystem stark integriert. Damit wird sich auch das Verhältnis der tamilischen Gemeinschaft zur Gesamtgesellschaft «normalisieren».
Interview: dif
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