Bewerbungskultur und magisches Denken im 21. Jahrhundert
Telepolis-Autor Peter Mühlbauer schaut mit einer originellen Perspektive auf die heutige Bewerbungskultur. Die zunehmend als unkontrollierbar wahrgenommenen ökonomischen Lebensbedingungen, schreibt er, führen zu einer Renaissance von magischem Denken, z.B. in der Bewerbungskultur.
Laut Malinowski werden immer jene Bereiche wissenschaftlich behandelt, die der Mensch technisch beeinflussen kann, "magisch" jene die außerhalb seiner Wirkungsmacht stehen:
Malinowski definierte die Magie als übernatürliche, unpersönliche Macht in der Vorstellungswelt des Menschen, die all das bewegt und steuert was für ihn gleichzeitig wichtig und unkontrollierbar ist. Magie wird mit Ehrfurcht und Scheu ausgeführt, mit Verboten und ausgefeilten Benimmregeln gesichert.
Was hat dies mit Bewerbungen zu tun? Mühlbauer schreibt von den Bergen an neuen Buechern ueber Bewerbungstechniken. Erklärbar wird diese Entwicklung, wenn man auch hier den Effekt einer Begegnung des nicht Beherrschbaren mit Hilfe von Magie annimmt, schreibt er:
Die Bewerbungsmappe und das Bewerbungsfoto dienen dann als (auch finanziell deutlich spürbares) "Opfer", die immer strengere Form der Bewerbung, in mehrwöchigen Zwangskursen vom Arbeitsamt gelehrt, als "Ritual". Hinzu kommt, dass die Bewerbungstechniken, wie in der Magie üblich, als Geheimwissen übermittelt werden - was sich bereits an der Auskunftsfreudigkeit der Arbeitsagentur oder ihrer ausgelagerten Veranstalter gegenüber der Presse gut beobachten lässt.
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Die Überprüfung der Richtigkeit des magischen Rituals schreibt man deshalb hier wie da einer übernatürlichen, unpersönlichen Macht zu. Was bei den Südseeinsulaner des frühen 20. Jahrhunderts [extern] "Mana", bei den Sioux [extern] "Wakan" und bei Algonkin-Indianern [extern] "Manitu" hieß, das ist für den Arbeitslosen des frühen 21. Jahrhunderts der "Markt".
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Auch die Reaktionen auf Misserfolge gleichen sich in primitiven und in entwickelten Gesellschaften: Lässt der Erfolg eines Opfers auf sich warten, "so besteht die Antwort nicht etwa in einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit des Opfers, sondern stets in der Forderung nach Steigerung der Opfergaben" - also in noch teureren Bewerbungsmappen, noch aufwändigeren Fotos und noch mehr Bewerbungskursen. "In beiden Fällen sind die Ursache-Wirkungs-Ketten zirkulär inszeniert und damit gegen empirische Kritik immun.
>> zum Text in Telepolis "Die Magie der Bewerbung"
(PS: Es gibt keine "primitiven" und "entwickelten" Gesellschaften, das ist eine sehr unglueckliche ethnozentrische Formulierung)
Ethnologe Markus Biedermann war kuerzlich beim Arbeitsamt und kommentiert den Artikel auf seinem Blog:
Insbesondere hängen geblieben sind aber die Stichworte zu der Frage, was denn nun konkret da [in die Bewerbung] rein gehöre und zu schreiben wäre: “beschönigen, ausbauen, kleine Lügen” und alles weitere in dieser Richtung sei ok. Nur bitte nicht soviel davon, dass man sich aus der selbstkonstruierten Verstrickung im Bewerbungsgespräch nicht auch wieder herauswinden könnte.
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[…] beiden Artikel wieder in Erinnerung gerufen: http://www.woweezowee.de/2006/03/20/bewerbungstips/ http://www.antropologi.info/blog/ethnologie/ethnologie.php?p=1733 Lesenswert. Und zum Glück sind diese Zeiten zumindest in absehbarer Zeit […]