"Ethnopsychoanalyse kann Fremdes vertraut machen"
"Die Ethnopsychoanalyse ist eine Gegenbewegung, um herauszufinden, wie Fremdes vertraut werden kann", sagte Ethnologe und Psychoanalytiker Mario Erdheim in einer Sendung im ORF ueber die Tagung "Kulturanalyse - Psychoanalyse - Sozialforschung".
Im Wiener Volkskundemuseum wurden aus Anlass des Freud-Jahres Potenziale und Bedingungen der Nutzung psychoanalytischen Wissens für die Analyse von Kultur und Gesellschaft diskutiert. Die Ethnologie hat sich schon früh psychoanalytische Einsichten zur Theorie und Analyse von Kultur und Gesellschaft genutzt. Zwischen 1955 und 1971 unternahm einer der Begründer der Ethnopsychoanalyse, Paul Parin, gemeinsam mit seiner Frau Goldy Parin-Matthéy und Fritz Morgenthau sechs ethnopsychologische Forschungsreisen in Westafrika.
Die Ethnopsychoanalyse, so Erdheim, interessiere sich dafür, wie das Individuum Kultur erlebt. Klassisch psychoanalytisch werde danach gefragt, was bewusst erlebt werden darf, was verdrängt, was abgespalten werden muss.
Die Konfrontation mit fremden Lebensformen stößt einen Reflexionsprozess über das Eigene und das Fremde an. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden hilft aber auch Angst zu reduzieren, eben weil es uns vertrauter wird, sagt Erdheim im ORF:
"Wenn sie etwa sehen, wie uns der Islam immer fremder wird, ist die Ethnopsychoanalyse eine Gegenbewegung, um herauszufinden, wie Fremdes vertraut werden kann", sagt Erdheim. Das Fremde könne zwar tatsächlich gefährlich sein. Oft werden aber nur die eigenen Ängste auf das Fremde projiziert, weil sie in der eigenen Kultur nicht wahrgenommen werden können bzw. dürfen.
Die Ethnopsychoanalyse basiert stark auf der Kulturtheorie Freuds, die in den letzten Jahren starker Kritik unterzogen worden ist. Erdheim sieht darin, so der ORF, kein Problem. Freud sei ein Kind seiner Zeit gewesen, seine Worte duerfe man nicht wie eine Bibel lesen. Die Aufgabe der Nachkommenden sei es, in seinem Sinn aktuelle Fragen zeitgemäß zu beantworten.
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Ein schwacher Artikel Erdheims. Sein Vorwort für die Fischer-Neuauflage von “Totem und Tabu” ist ähnlich substanzlos. Die Rede vom “Kind seiner Zeit” unterschlägt, wie Freud bei aller vorauseilenden Unterwerfung wie kaum ein anderes “Kind seiner Zeit” gegen seine Zeit arbeitete und die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit psychologisch denkbar machte.
Was Erdheim mit dem Islamismus-Bezug sagen will, ist mir schleierhaft. Welches Andere genau soll da vertraut werden?
Meines Erachtens wird da positiv umformuliert, was einst negativer und kritischer Gehalt der Psychoanalyse war: Das Eigene am Bild des Fremden zu entdecken und im Fremden über die eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren - um die Kritik zu schärfen. In Bezug auf den Islamismus kann das nur bedeuten, die dem Islamismus entgegenkommenden nazistischen Kulturatavismen in Deutschland aufzuspießen und so sowohl die kulturalistische Rede von der Islamphobie als auch die nationalistische Empörung über das Eindringen des Fremden ad absurdum zu führen.