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Feldarbeit am eigenen Selbst
Marc Augé oder Der Anthropologe als Zeitkritiker
Die Laufbahn des französischen Anthropologen Marc Augé lässt sich parallel zur Entwicklung seines Faches lesen: Nach Feldstudien in Schwarzafrika wendet er sich zunehmend der westlichen Welt zu, gründet eine «Ethnologie des Nahen» mit, die sich mit Alltagsobjekten befasst, und wird zum Kritiker der «Übermoderne».
«Sein ganzes Leben», schreibt der französische Anthropologe Marc Augé in einem - obwohl in der dritten Person verfassten - autobiografischen Text, «veränderte jener Tag, als er in Afrika angekommen war. Diese Ankunft bildete einen Anfang, und noch heute sah er die vorangegangenen Jahre lediglich als eine Art Vorzeit an, in der das Gesicht seiner Eltern, einige Ferienlandschaften und die Flure von Schulhäusern ineinander verschwammen. Sein erster Aufenthalt in Afrika war das Jahr eins seines neuen Kalenders gewesen.» Es lässt sich auf 1965 datieren, als der damals dreissigjährige Augé an die Côte d'Ivoire reiste, um das Leben der Alladian zu studieren, eines etwa zehntausend Seelen zählenden Lagunenvolks. Was treibt ein Kind des gutbürgerlichen fünften Pariser Arrondissements, einen Absolventen der Ecole normale supérieure mit einem Staatsexamen in Literaturwissenschaft in eine frühere, erst seit kurzer Zeit unabhängige französische Kolonie in Schwarzafrika? «Manche in meinem Umfeld meinten, das sei der reine Wahnsinn. Ich hatte selbst ein wenig Bammel», erzählt Augé bei einem Gespräch in seinem Büro in der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS).
Augés erste, von den Arbeiten seiner Lehrer Georges Balandier und Claude Lévi-Strauss beeinflusste Veröffentlichungen richten sich an Leser vom Fach und befassen sich mit Verwandtschaftsstrukturen und Machtbeziehungen. Dank der Feldarbeit gewinnt der junge Forscher einen gewissen Spielraum gegenüber dem dominierenden Diskurs seiner Zeit: «Althusser», erinnert er sich in «Pour quoi vivons nous?» (Fayard, 2003), «der uns wie ein Befreier erschienen war (er befreite uns von der marxistischen Vulgata), zwang einem Teil der ethnologischen Forschung auf subtile Art und Weise ein Objekt, Konzepte und auch einen gewissen Mechanismus auf. Ich bin den Alladian dankbar, dass sie mir durch das Erlebnis ihrer Untersuchungen post mortem, ihrer Bestattungen, ihrer unbarmherzigen Dorfchronik und durch ihre Zuflucht zu Propheten-Heilern einen Umweg über ‹Superstrukturen› aufzwangen, die mich davor bewahrten, Schemata anzuwenden, ohne mich an konkreten Erfahrungen zu reiben.»
Anthropologie im 21. Jahrhundert
Ein Fachidiot ist Augé schon allein von der Bandbreite seiner Publikationen her nicht. Freilich verwahrt er sich dagegen, in seinem Werk zwischen streng wissenschaftlichen und mehr essayistischen Schriften zu unterscheiden: Das gemeinsame, «obsessive» Thema seien «die Beziehungen zwischen den einen und den anderen, so wie sie von den einen und den anderen konzipiert werden». Aufgabe der Anthropologen sei es, «eine kritische Analyse der kulturellen Ausdrucksweisen im historischen Kontext anzubieten. Hierfür müssen sie der Transformationen unserer Welt gewahr werden (Gentechnik, Informationstechnologien, digitale Bilder) und der grossen Herausforderungen, die sich ihr stellen: des Reichtumsgefälles, der Umweltgefährdung, der neuen Pandemien.» Objekte der Anthropologie im 21. Jahrhundert seien nicht «das Verschwinden oder die Bewahrung von sogenannten traditionellen Gesellschaften, sondern die Beziehungen zwischen Gruppen, die Interaktionen zwischen dem, was dem Lokalen, vor Ort empirisch Beobachtbaren, zugehört, und dem, was in den Bereich des Globalen oder Weltumspannenden fällt» («L'Anthropologie», PUF 2004).
Die einzelnen Stationen von Augés Lebensweg lassen sich, wie er selbst unterstreicht, auch als Wegmarken der Entwicklung seines Faches lesen. Der Vater, ein Finanzinspektor, hatte «eine Laufbahn à la Giraudoux»: ein erster Posten in einem Nest in der Corrèze, dann eine Versetzung nach Poitiers, wo Marc Augé 1935 geboren wurde, endlich der «Aufstieg» in die Kapitale, wo die uralte Mutter noch heute die 1938 bezogene Wohnung in der Rue Monge bewohnt. Bilder der Kindheit und Jugend: die Odyssee der Flucht vor den heranrückenden deutschen Truppen im Frühling 1940, vier Jahre später die Befreiung durch die Division Leclerc und de Gaulles Ansprache vor Notre-Dame, der tägliche Schulweg durch den Parc du Luxembourg, die grossen Ferien am Meer, die Zusammenkünfte mit in aller Welt verstreuten Cousins und Cousinen (bis auf Augés Vater waren alle Männer in der Familie im Militär), nicht zu vergessen die prägende Lektüre der Werke der Comtesse de Ségur - insbesondere von «Les Vacances», «das bereits alle grossen Themen des Romans enthält: das Verschwinden, die Erinnerung, die Begegnung, die Exotik. . .» Von dieser «romanhaften» Kindheit bleiben Augé eine Lust am Reisen und eine Faszination fürs ferne Anderswo, die seine Berufung zum Anthropologen entscheidend mitbestimmt haben.
Augés grosse Afrika-Aufenthalte liegen zwischen 1965 und 1970. 1970 erfolgt seine Berufung an die EHESS, 1976 seine Ernennung zum Studiendirektor. Statt selbst monatelang auf Reisen zu gehen, «begleitet» er nun immer öfter die Feldarbeit von (jüngeren) Kollegen, «entdeckt» so etwa in den neunziger Jahren Südamerika - «es gibt eine Zeit für alles». Im Jahr seiner Ernennung zum Präsidenten der EHESS, einem Amt, das er zehn Jahre lang ausüben wird, veröffentlicht er das erste einer Reihe von Büchern, deren Gegenstand praktisch vor der eigenen Haustür liegt: «La Traversée du Luxembourg» (Hachette 1985), den Ethno-Roman eines Tages im titelgebenden Park. Derselben Kategorie des «Experimentellen» (ein Ausdruck des Autors) gehören «Un Ethnologue dans le métro» (Hachette 1986) und «Domaines et châteaux» (Seuil 1989) an, eine Studie über die Riten in der Pariser U-Bahn und eine Reflexion über die (literarischen) Echos und Assoziationen, die beim Autor die Lektüre von Immobilienanzeigen für ländliche Anwesen hervorruft.
Nicht-Orte und Übermoderne
Augé gilt als Mitschöpfer der «Ethnologie du proche», der Ethnologie des Nahen, d. h. gleichsam unter der Hand Liegenden. In Werken wie den drei obgenannten fallen Fragesteller und Antwortgeber in eins, ist der Forscher sein eigener Informant, die Ethno-Analyse mithin eine Auto- Analyse. Das Schreiben in der Ich-Form, persönliche Erinnerungen und Erlebnisse sowie ein feinnerviger, «belletristischer» Stil - alles Elemente, die in wissenschaftlichen Publikationen gemeinhin verpönt sind - verleihen Augés Werken seit 1985 eine besondere Kolorierung. Ob diese nun als Studien, als Essays oder als «Exercices d'ethno-fiction» zu rubrizieren sind, ist nebensächlich. Was zählt, ist, dass der Autor Topoi der «klassischen» Ethnologie wie Symbol, Ritual oder das Paar Identität/Alterität auf die globalisierte Gegenwart anwendet und, von seiner Erfahrung als Afrikanist ausgehend, die Jetztzeit kritisch durchleuchtet. Die These von der «Kolonisierung» grosser Teile der (westlichen) Welt durch das Reich des Bildes ist sicher nicht neu, aber die Parallele, die Augé zur Situation der einstigen Kolonisierten zieht, wirkt erhellend - werden die Anthropologen doch so zu frühzeitigen Diagnostikern eines Leidens, das uns heute alle zu erfassen droht.
Die in «Non-lieux» (Seuil, 1992) definierte «Übermoderne», die sich durch ein dreifaches Übermass - an Zeit, an Raum und an Individualität - auszeichnet sowie durch die Ausbreitung von «Nicht-Orten», die wie Supermärkte, Fernsehbildschirme oder Autobahnen weder identitäts- noch beziehungsstiftend sind, droht unser Innenleben, unsere Imaginationskraft auszuzehren. Wenn Augé, im Übrigen ein ungemein aufgeschlossener und warmherziger Gesprächspartner, eindringlich vor den Gefahren des «Systems» warnt, spricht da kein idealistisch-naiver Globalisierungskritiker, sondern ein Jäger, der in Vergnügungsparks oder Feriendörfern die Spuren einer monströsen Entwicklung liest. Während der letzten halben Stunde unseres Gesprächs schlägt die Übermoderne dann prompt zurück: in Form eines kleinen blauen Handys, das alle fünf Minuten wie wild zu surren und zu blinken anfängt. Augé fingert dann jeweils mit zunehmender Empörung auf dem Gerät herum und murmelt hilflos: «Mais qu'est ce que je peux faire. . .?»
Marc Zitzmann
http://www.nzz.ch/2004/10/22/fe/page-article9XUUF.html
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