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Die Schattenseite der Solidarität: Soziokulturelle Wurzeln der Unterentwicklung in Afrika

NZZ, 7.5.05

Gemeinhin wird die Unterentwicklung des afrikanischen Kontinents auf den (Neo-) Kolonialismus, Kriege und Korruption, geringe Wirtschaftskraft und Naturkatastrophen zurückgeführt. Zweifellos tragen diese Faktoren zur Armut bei, allerdings bleibt eine Analyse ohne die Berücksichtigung von soziokulturellen Faktoren ungenügend.

Als vor vier Jahren Dani Kouyatés Spielfilm «Sia - Der Traum von der Python» in die Kinos kam, war die Verwunderung gross. Denn hier beschäftigte sich ein Regisseur mit der Armut in seinem Land Burkina Faso, ohne bei den herkömmlichen Gründen wie Sklaverei, Kolonialismus, Globalisierung oder schlechte Regierungsführung stehen zu bleiben. Seine Analyse setzte vielmehr bei den Urmythen und deren Instrumentalisierung durch die politische und religiöse Klasse ein. Denn unter Billigung des Herrschers missbraucht der Rat der Weisen den Mythos des Pythongottes. Was offiziell wie ein Opfer aussieht, um den Gott gütig zu stimmen, entpuppt sich im Laufe des Films als Fassade für eine kollektive Vergewaltigung der schönsten Frau des Landes.

Kouyatés Spielfilm lenkt die Aufmerksamkeit auf einen afrikawissenschaftlichen Diskurs, der die Gründe für die Unterentwicklung in der afrikanischen Gesellschaft selbst sucht. «Afrika bewegt sich nicht, weil es von soziokulturellen Hindernissen blockiert wird, die es wie seine Gris-Gris heiligt», schreibt Stephen Smith. Sein Buch «Négrologie. Pourquoi l’Afrique meurt» (2003) hat sich in Frankreich zu einem Bestseller entwickelt.

Hierarchische Gesellschaftsstrukturen

Schonungslos bietet Smith eine aktuelle Beschreibung der politischen und ökonomischen Situation des afrikanischen Kontinents. Für die Misere wird in erster Linie ein patrimonialer Staatsapparat verantwortlich gemacht, der auf meist kriminelle Weise das Budget verschlinge, so dass er seine Dienstleistungen und Funktionen zugunsten des Gemeinwesens weder wahrnehmen könne noch wolle. An die Leerstelle dieses Staates setzen sich soziale Akteure wie Angestellte der Staatsunternehmen, Beamte, Politiker, Religionsführer oder Unternehmer. Diese Akteure plündern nicht nur die Staatskassen, sondern missbrauchen auch die hierarchische Gesellschaftsstruktur zur Festigung ihrer klientelistischen Netzwerke.

Jenen, die in diesem System die Rolle der Klienten spielen müssen, kommt die alleinige Verfügungsgewalt über ihr Einkommen abhanden. Ihnen wird zwar das alltägliche Überleben garantiert, jedoch werden sie effizient von der Macht und der Verantwortungsübernahme ausgeschlossen, da die Patrons kein Interesse an individueller Emanzipation und gesellschaftlicher Partizipation haben können. So wird die Energie der Eliten völlig zur Absicherung der hierarchischen Gesellschaftsordnung eingesetzt und individueller Unternehmergeist verunmöglicht.

Smiths Argumentation vermag auf den ersten Blick zu überzeugen. Bei näherer Betrachtung sind allerdings Defizite auszumachen. Gerade die verarbeitete Materialfülle lässt Smith sein eigentliches Ziel verfehlen, nämlich die Analyse der soziokulturellen Faktoren.

Mangel an Individualismus

Der in Freiburg i. Ü. ansässige kongolesische Philosoph Landasa Sandala beginnt seine Analyse dort, wo Smith aufhört. Zwar schätzt er den Essay von Smith, da er einige der Probleme Afrikas unverblümt zur Sprache bringe. Doch laut Sandala begeht Smith den Denkfehler, den afrikanischen Menschen auf cartesianische Weise definieren zu wollen statt von einem sozialphilosophischen Konzept des Individuums auszugehen, das seine Identität aus seiner Stellung innerhalb der Gemeinschaft bezieht.

Das aus der europäischen Geistesgeschichte tradierte Prinzip «Ich denke, also bin ich» werde in Afrika durch «Ich bin durch die anderen» ersetzt. Die Vorteile dieser Konzeption lägen nicht nur in der erleichterten Identitätsbildung der Gemeinschaftsmitglieder, sondern auch im solidarischen Zusammenhalt der Gesellschaft. Denn jedes Mitglied sei von klein auf gewohnt zu teilen und wachse mit dem Bewusstsein auf, den Mitmenschen zu Dank verpflichtet zu sein.

Das Beispiel der Schulbildung veranschauliche diese Situation: Aufgrund des beschränkten finanziellen Spielraumes der meisten Familien erhalte nur ein kleiner Teil der Kinder eine Schulbildung. Später hätten diese Kinder dann zwar gute Voraussetzungen für eine berufliche Karriere, aber sie müssten schwer an der Verantwortung tragen, für die übrigen Familienmitglieder zu sorgen. Diese solidarische Pflichtethik sei aber im höchsten Grade zweischneidig, wie Sandala betont. Denn sie verführe viele Gesellschaftsmitglieder zur Lethargie und vermindere ihre Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme. Statt sich selbst beruflich überlebenstüchtig zu machen, beschränkten sich viele auf das Schröpfen ihrer erfolgreichen Familienmitglieder.

Abzocken durch Hexerei

Wie der Missbrauch der Solidarität durchgesetzt wird, veranschaulicht die Studie «Die Ökonomie der Hexerei» (2004) des Zürcher Ethnologen David Signer. Überzeugend legt er dar, wie der Neid der sozial Schwachen den ökonomischen Spielraum der Berufstätigen einengt und ihren wirtschaftlichen Unternehmergeist hemmt. Da aber ohne Investitionen und Rücklagen kein Unternehmen wachsen könne, werde der ökonomische Erfolg bereits im Keim von nahen und fernen Verwandten erstickt.

Erstaunlich ist der Grund, den Signer für das Funktionieren dieser afrikanischen Variante des «Abzockens» ausmacht. Dieser liege in der Furcht, verhext zu werden, was sich nur durch Freundlichkeit und solidarisches Teilen vermeiden lasse. «In Afrika arm geboren zu werden, heisst, arm zu sterben. Der Faule ist schlauer als der Fleissige, denn beide bringen es gleich wenig weit, bloss dass der eine ein leichteres Leben hat als der andere», zitiert Signer einen Informanten aus Côte d’Ivoire. Auch wenn Signer andere Erklärungen für die Armut und die Unterentwicklung ausblendet, pflichtet ihm Landasa Sandala weitgehend bei. Der kongolesische Philosoph bezeichnet die Hexerei als ein Damoklesschwert, das ständig über den erfolgreichen Gesellschaftsmitgliedern schwebe.

So stellt sich für viele Bürger in Afrika der Kampf gegen die - notabene staatlich geförderten - patrimonialen Verhältnisse so aussichtslos wie unerquicklich dar. Statt gegen diese Strukturen zu revoltieren, entscheiden sie sich für den alltäglichen Überlebenskampf. Ihr solidarisches Netzwerk hilft ihnen dabei und hält sie mit seinen Fäden doch gleichzeitig gefangen. Denn die negativen Folgen der Solidarität führen im Zusammenspiel mit Aberglaube und Klientelismus zu einem Mangel an Emanzipation und an persönlichem Engagement.

Auch eine solche soziokulturelle Analyse kann selbstverständlich aufgrund der zwangsläufigen Generalisierungen und der zahlreichen lokalen Unterschiede zwischen den verschiedenen afrikanischen Gesellschaften die Gründe für Armut und Unterentwicklung nicht restlos erklären. Doch ohne ihre Berücksichtigung ist es nicht möglich, zu einem tieferen Verständnis der politischen und wirtschaftlichen Marginalisierung Afrikas vorzudringen.

Frank Wittmann

David Signer: Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt. Edition Trickster im Peter- Hammer-Verlag, Wuppertal. 456 S., Fr. 38.60.

Stephen Smith: Négrologie. Pourquoi l’Afrique meurt. Hachette, Paris. 248 S., Euro 7.60.

http://www.nzz.ch/2005/05/07/fe/articleCHW6Y.html




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