KOPIE! Artikel nicht mehr auf www.sueddeutsche.de vorhanden
Parallelgesellschaften und Anti-Islamismus
Parallelgesellschaften und
Anti-Islamismus darf es in einer Demokratie nicht geben. Doch sie sind
im Inbegriff, wieder zu entstehen.
Von Y. Michal Bodemann
In einer großen Zeitung erscheint ein
langer Artikel über die Stellung der Juden in Deutschland heute. Darin
heißt es: Während ein nicht unbedeutender Teil der Juden sich in die
deutsche Gesellschaft integriert, ist das bei vielen anderen nicht
festzustellen.
Viele Juden meinen, sie kämen auch ohne
Deutschkenntnisse aus. Schulische Aktivitäten, wenn sie denn einmal auf
einen Samstag fallen, werden boykottiert. Frauen sind im Judentum auch
heute noch Bürger zweiter Klasse.
Besonders besorgt drückt sich der Autor
darüber aus, dass einige ultra-zionistische, nicht offen operierende
Organisationen Mitglieder in Deutschland anwerben und für ihre Zwecke,
ein theokratisches Groß-Israel, Geld sammeln. Gerade auch die
russisch-jüdischen Einwanderer hätten sich in großstädtischen Ghettos
isoliert, abgeschottet von der deutschen Umwelt und ohne Interesse an
unserer Kultur und Lebensweise.
Ein Artikel dieser Sorte, erschiene er denn
in einer deutschen Zeitung, würde eine Welle der Entrüstung
hervorrufen. Der Chefredakteur müsste sich umgehend für den
"bedauerlichen Ausrutscher" entschuldigen, dem verantwortlichen
Redakteur würde vermutlich fristlos gekündigt.
Wenn wir in diesem Bericht jedoch das Wort
"Juden" durch die Wörter "Muslime" oder "Türken" ersetzen und den
Inhalt etwas umschreiben, dann liegt die Sache ganz anders. Solche
Berichte lesen wir fast täglich, sie sind, trotz ihrer
Halbinformiertheit, das Selbstverständlichste der Welt.
Ignoranz und Hysterie
Mit einer erstaunlichen Ignoranz und
Hysterie - der soziologische Begriff der moral panic bringt das auf den
Punkt - werden Gruselgeschichten über türkische Organisationen in
Deutschland, muslimische Frauen oder die Schulsituation der Kinder
kolportiert. Wenn eine Moschee angezündet oder geschändet wird, ist das
kaum eines Berichtes wert. Bei einer Kirche oder Synagoge wäre das
anders.
Klaus Buß, Innenminister in
Schleswig-Holstein, wurde unlängst in der SZ mit dem Satz zitiert, es
entwickelten sich bei uns "Parallelgesellschaften mit undurchsichtigen
Strukturen. So etwas darf es in einer demokratischen Gesellschaft nicht
geben".
Buß meinte nicht etwa bestimmte elitäre
Milieus, deren Angehörige enge Geschäftsverbindungen miteinander
pflegen, oft untereinander heiraten und ihre Kinder auf für
Normalverbraucher kaum zugängliche Internate schicken.
Tatsächlich bezog Buß sich auf
Islamisten-oder meinte er Muslime allgemein? Ihm wie vielen anderen
sind die Unterschiede unklar oder einerlei: Die Strukturen sind eben
undurchsichtig - aus dieser Undurchsichtigkeit heraus werden
Horrorszenarien konstruiert.
Der Mann großer Sprüche
Das prominenteste Szenario dieser Sorte war
das Theater um den "Kalifen von Köln": fest verankert, so schien es, in
den türkischen Ghettos Deutschlands, mit Abertausenden von
Gefolgsleuten, und auf bestem Weg, durch Mord und Terror von Köln aus
Kontrolle über Deutschland zu erringen.
Der Ethnologe Werner Schiffauer kommt in
seiner sorgfältigen Studie über die Kaplan-Gemeinde zu anderen
Schlüssen: Es handelt sich dabei um eine typische puritanische und
charismatisch geführte Einwanderersekte, die heute vielleicht noch ein
paar hundert Mitglieder zählt.
Metin Kaplan war vor allem ein Mann großer
Sprüche, sowohl gegenüber Deutschland als auch gegenüber der Türkei.
Mit der massiven Kampagne gegen ihn wurde suggeriert, alle türkischen
Organisationen im Land stünden unter ähnlichem Verdacht.
Kaplan erinnert an eine andere megalomane
Einwanderergeschichte. Im 19. Jahrhundert gründeten isländische
Einwanderer in Kanada nicht nur eine Parallelgesellschaft, sondern gar
einen parallelen Staat, die "Free Icelandic Republic". Und wie
reagierte die Regierung in Ottawa? Sie reagierte überhaupt nicht. Nach
einigen Jahren war es mit der großartigen Republik vorbei, und die
Isländer wurden brave kanadische Bürger.
Drastisches Anpassungsproblem
Die Betonung der Undurchsichtigkeit, in
Wirklichkeit: das Nicht-Anerkennenwollen des Anderen, führt auch zum
Nicht-Anerkennenwollen der politischen Bedürfnisse der Anderen. So wird
auf die Zeitung Milli Gazete, eine Publikation der nationalreligiösen
Organisation Milli Görüs, mit einigem durchaus berechtigten
Stirnrunzeln verwiesen.
Stimmt, es ist nicht alles schön, was dort
zu lesen ist. Da warnt etwa eine größere türkische Organisation davor,
türkische Kinder könnten "Juden-und Christenkomitees" zum Fraß
vorgeworfen werden. Nur: Sollte man nicht auch einmal nachfragen, wer
denn diese Zeitung liest?
Zum allergrößten Teil sind es ältere Herren
aus den hintersten Dörfern Anatoliens - und eben nicht die jungen,
modernen Anwälte, Geschäftsleute, Ärzte oder Journalisten, die der
Milli Görüs ebenfalls angehören.
Milli Gazete repräsentiert Milli Görüs oder
gar Türken insgesamt in etwa so, wie die National-Zeitung die Meinung
aller Deutschen repräsentiert. Wir kennen Flügelkämpfe in unseren
Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen. Dass aber auch
türkische oder muslimische Organisationen nicht monolithisch sind,
kommt vielen hierzulande nicht in den Sinn.
Beispiellos ist die jüngste Titelgeschichte
des Spiegel über die Misshandlung muslimischer Frauen. Es geht um
Zwangsheiraten, Brautpreise, Ehren tötungen und anderes. Kein Zweifel,
das gibt es, genau so, wie es auf einheimischer Seite
Zwangsentführungen von Kindern, Familientragödien, Bedrohung
entfremdeter Ehepartner gibt.
Der Spiegel präsentiert viel
Grausig-Anekdotisches, nennt jedoch nur eine einzige konkrete Zahl:
einer Studie des Bundesfamilienministeriums zufolge melden Türkinnen
eine um 50 Prozent höhere Gewaltquote als andere deutsche Bürgerinnen.
Diese Ziffer kann wohl kaum überraschen,
denn die Konfliktpotenziale sind unter Einwanderern besonders groß. Sie
ergeben sich aus den drastischen Anpassungsproblemen vor allem von
Menschen aus traditionellen Milieus. All die hier dramatisierten
Probleme sind aus anderen Einwandererländern hinlänglich bekannt und
verschwinden nach der ersten oder zweiten Generation.
Anti-islamische Hetze
Seit dem Mord an Theo van Gogh ist die
Hysterie noch angewachsen. Die anti-islamische Hetze ("Ziegenficker"),
die er und andere betreiben, wird nicht ernsthaft thematisiert, während
sich die europäische Welt über die anti-islamischen und rassistischen
Erniedrigungen in Abu Ghraib erregt.
Nun meint der Spiegel, die Niederlande
stünden "vor den Trümmern" ihrer Toleranz, der Bürgermeister von
Neukölln sieht "Multi-Kulti gescheitert", und Annette Schavan wünscht,
die Predigten in den Moscheen sollten, zur besseren Kontrolle offenbar,
auf Deutsch gehalten werden.
Seit der Kaiserzeit, als die polnischen
Einwanderer im Ruhrgebiet in deutschsprachige Gottesdienste gezwungen
wurden, hat sich hier also wenig verändert.
Hass schaukelt sich hoch
Die Intensität dieser neuerlichen
rassistischen Hetze in Europa ist freilich ohne den 11. September nicht
zu denken. Nun schaukelt sich der Hass zwischen Einheimischen und den
Migranten wechselseitig hoch.
Übersehen wird dabei, dass es hier
weitgehend um für Migranten reformulierte alte Antisemitismen geht: von
der "Parallelgesellschaft" (den Juden, die nur ihresgleichen helfen)
zur "Undurchsichtigkeit" (den verdeckt operierenden, verschwörerischen
Juden) bis hin zum jüdischen und türkischen Patriarchat.
Noch sind explizite anti-jüdische
Sentiments dabei auf der rassistischen Rechten und bei bestimmten
Migrantengruppen getrennt - Migranten, die unter dem Druck stehen, den
offenen Konflikt mit Einheimischen zu vermeiden und die ihren Frust
stattdessen auf Juden als die Sündenböcke richten könnten - so wie es
die Rechten entsprechend tun.
Die Frage ist, ob und wann aus
verschiedenen Richtungen Migranten und Rechte die Mitte zu erobern
beginnen. Dann bleiben hypothetische Berichte über die jüdische
"Parallelgesellschaft" nicht mehr bloße Phantasie.
Der Autor Y. Michal Bodemann lehrt Soziologie in Toronto.
(SZ vom 20.11.2004)
http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/346/43303/4/