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Essaouira ist überall: Doris Byers erzählende Ethnologie
Essaouira ist eine kleine marokkanische Küstenstadt, die einen speziellen Ruf hat. Vor alten Zeiten lebten hier Araber, Berber, Juden und diverse Kolonialeuropäer zusammen. Die österreichische Ethnologin Doris Byer hat drei Jahre in Essaouira gelebt.
Karl-Markus Gauss, NZZ, 21.7.04
Um 1968 wurde der Ort von Hippies entdeckt, diesen folgten metropolenflüchtige Künstler, die einen schönen wie billigen Platz zum Leben suchten und selbst wiederum den Weg bereiteten für wohlhabende Aussteiger aus Westeuropa und den USA, die sich in den achtziger Jahren in Essaouira niederliessen. Heute steht die Stadt im Ruf, eine interessante Destination für elitäre Sextouristen zu sein, die es vor den in Thailand sich drängenden ordinären Massen graut.
Die österreichische Ethnologin Doris Byer hat drei Jahre in Essaouira gelebt, Hunderte Gespräche mit hochbetagten französischen «colons», ergrauten Hippies, feinnervigen Künstlern, von der Gier nach «dunklem Sex» getriebenen Aussteigern geführt und ein Buch verfasst, das Studie, Essay und Erzählung in einem ist. Sie fragt, «warum amerikanische Spontis und europäische Hedonisten ausgerechnet in einer islamischen Gesellschaft die persönliche Freiheit und die Erfüllung ihrer geheimen Wünsche erhoffen». Sie forscht also nach den Motiven, Grenzen und Möglichkeiten einer «transkulturellen Lebensführung» und befragt die radikal individualistischen Lebensentwürfe der Immigranten nach ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen und kulturellen Folgerungen. Was sie entdeckt, sind Missverständnisse auf der einen wie der anderen Seite, bei den Zuzügern, die auch nach dreissig Jahren «Fremde» geblieben sind, wie bei den Einheimischen, die diesen eine ganze Palette an sexuellen Dienstleistungen anbieten und sie doch unverhohlen als Repräsentanten westlicher Sittenlosigkeit verachten.
Die Wissenschafterin Doris Byer hütet sich zu kommentieren, was sie als Erzählerin darzulegen weiss. Die Widersprüche ihrer Protagonisten irritieren umso mehr, als sie weder psychologisch erklärt noch auf ein ethnologisches System gebracht werden. Da ist etwa Jane, eine emanzipierte Engländerin, die der Enge ihrer bürgerlichen Ehe nach Marokko entronnen ist und es sich dort gefallen lässt, von ihrem jüngeren, intellektuell unterlegenen und von ihr finanziell abhängigen Geliebten öffentlich gedemütigt und geschlagen zu werden. So wie sie sind viele der Immigranten vor den ungelösten Problemen, die sie zu Hause mit ihren Partnern, im Beruf, mit sich und der eigenen Sexualität hatten, hierher, in die vermeintlich freie Enklave einer repressiven Gesellschaft, geflohen: Wenn sie «Essaouira, endlich» erreicht haben, wähnen sie sich in Freiheit, aber sie haben ihre Probleme mitgenommen und richten sich, als Homosexuelle, Pädophile, gewohnheitsmässige Ehebrecher, in «einer selbst gewählten Rechtsunsicherheit» des islamischen Staates ein, «die zu Denunziation, Korruption und Machtmissbrauch verleitet».
Doris Byer ist ein spannendes Werk zwischen den literarischen Gattungen gelungen. Was sie von einem kleinen Ort berichtet, an dem zwei verschiedenartige Kulturen aufeinander treffen, weist weit über diesen hinaus; in der «globalen Gesellschaft», die immer mehr Menschen mit «mehrfach gebrochenen Identitäten» zusammenführt, ist Essaouira nämlich überall.
Doris Byer: Essaouira, endlich. Literaturverlag Droschl, Graz 2004. 312 S., Fr. 39.80.