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«Ihr liebt uns vielleicht, wir euch nicht unbedingt»

Renée Galli meint, das Geld mache die Deutschschweizer überheblich. Theo Willimann findet, die Tessiner seien zu wenig tüchtig. Wenn Denis Cormano seine alte Vespa vor dem Eingang parkiert, dann reklamieren die Deutschschweizer Nachbarn: Sie wollen Ruhe und Ordnung. Zwischen den Einheimischen und den Zuzügern aus dem Norden stehen Vorbehalte, Vorwürfe, Vorurteile. Szenen einer Beziehung.

Der Bund, Christian von Burg 05.11.05

Denis Cormano sitzt in seiner Hängematte in der Residenza Sabrina in Ascona und schaut auf das Haus nebenan. Bettwäsche hängt zu den Fenstern heraus, eine Katzentreppe führt in den ersten Stock, auf den Balkonen wachsen Topfpflanzen: Hier wohnen Tessiner. Auf Cormanos Seite hingegen sind die Balkone leer, und der Rasen ist akkurat geschnitten. Hier haben fast ausschliesslich Deutschschweizer und Deutsche ihre Zweitwohnungen.

«Sie reklamieren, wenn ich meine alte Vespa vor dem Eingang parkiere, unsere Katze darf nicht mehr aus dem Haus, und dem Nachbarn haben sie sogar verboten, ein zusätzliches Gitter am Balkon anzubringen, damit sein Kind nicht runterfällt.» Cormano studiert in Basel Ethnologie, ist aber noch oft in Ascona anzutreffen. Hier arbeitet er mitten in der Altstadt, hilft in der Bar aus, die zum Restaurant seiner Eltern gehört. Dreht er die Musik nur ein bisschen über Zimmerlautstärke auf, beschweren sich die Deutsch sprechenden Nachbarn schon am frühen Abend. Cormano fühlt sich nicht mehr zuhause: «Ascona wird zum Altersheim, meine Kollegen ziehen weg, für uns Junge ist der Ort nicht mehr lebenswert.»

Das Paradies der «Zucchin»

Viele Tessiner haben Ascona abgeschrieben. Ascona ist ein Ort für Deutschschweizer und Deutsche. Dort, wo der Blick über den Lago Maggiore am schönsten ist, haben die «Zucchin» – so nennen die Tessiner die Leute aus dem Norden im örtlichen Dialekt – bald alle Häuser und Grundstücke aufgekauft. Am Seeufer in Ascona reiht sich Restaurant an Restaurant. Ehepaare zwischen 50 und 80 Jahren studieren die Speisekarten oder schlendern dem Ufer entlang. Es riecht nach Parfum und Pizza. Ein Südamerikaner spielt auf seiner Gitarre Schlagermelodien.

«Am Lido hält sich kaum mehr ein Einheimischer auf», sagt Cormano. Die Jungen gingen nach Locarno in den Ausgang, seit die Discos in Ascona wegen des Lärms schliessen mussten. Oft machen sich die Tessiner über die «Zucchin» lustig, die schlecht gekleidet durch die Stadt ziehen. «Ein Pärchen im gleichen T-Shirt bringt uns zum Grinsen», sagt Cormano, «so was bieten nur Deutschschweizer.» Was ihnen die Tessiner ebenfalls kaum verzeihen können, ist ihre angeblich zu vorsichtige Art, Auto zu fahren. Dass sie oft lange Kolonnen verursachen, wenn sie ein Tessiner Bergtal hochfahren, hat ihnen den zweiten Übernamen eingebracht: «un bel panorama». Und schliesslich das Wandern. Neun von zehn Menschen auf Tessiner Wanderwegen kämen aus dem Norden, sagt Cormano. In den Restaurants seien jene gefürchtet, die nach dem Abstieg vom Berg die Schuhe ausziehen.

Aber neben allen boshaften Witzen wissen die Tessiner die «bel panorama» als konsumierende Gäste doch zu schätzen. Bei den Wirten seien sie teilweise sogar beliebter als die Tessiner, sagt Cormano. «Einheimische wollen oft wie Freunde der Familie empfangen werden, ihr eigenes Menü zusammenstellen und erwarten am Schluss, dass Kaffee oder Grappa offeriert wird.»

Deutschsprachiger Speckgürtel

Das Wörterbuch weiss übrigens nichts zur Herkunft des Spitznamens «Zucchin». Bekannt ist aber, wie viele von ihnen es gibt: Gemäss Volkszählung sprechen heute 13,2 Prozent der Familien im Tessin Schweizer- oder Hochdeutsch. Zum Vergleich: Im offiziell zweisprachigen Kanton Bern liegt der Anteil der Französisch sprechenden Familien bei 7,6 Prozent.

Bei dieser Erhebung wurden allerdings die im Tessin überaus zahlreichen Ferienhausbesitzer und Touristen nicht einberechnet. In Ascona etwa wurden im letzten Jahr 1,23 Millionen Übernachtungen registriert. Geht man einmal davon aus, dass 80 Prozent dieser Touristen deutschsprachig sind, so übernachten im jährlichen Durchschnitt pro Tag 2700 Touristen in Ascona – zum grössten Teil in luxuriösen Zweitwohnungen. Zusammen mit den 1190 Deutschsprachigen, die Ascona unterdessen zu ihrem festen Wohnsitz gemacht haben, liegt das Verhältnis von Deutsch zu Italienisch bei 54 zu 46.

Noch eindeutiger fällt die Rechnung am Sonnenhang oberhalb von Locarno in Orselina (68 zu 32) und Brione (64 zu 36) aus. Im Klartext: Rechnet man die Anwesenheit der Ferienhausbesitzer dazu, so sprechen im Speckgürtel um Locarno bis zu zwei Drittel der Menschen nicht mehr Italienisch, sondern Deutsch. Und der Trend setzt sich fort. Rund um den Lago Maggiore sind Baukräne zu sehen. Die entstehenden Residenzen werden zum grössten Teil von Deutschschweizern gekauft. Im südlichen Teil des Tessins allerdings, um Lugano, verläuft die Entwicklung anders. Dort sind die Deutschschweizer weit weniger dominant als im Locarnese.

Als erste Partei hat die SVP entdeckt, was für ein neues Wählerpotenzial sich entwickelt hat. Sie wirbt für den Beitritt zu ihrer Deutschschweizer Sektion im Tessin. Wegen ihrer bescheidenen Italienischkenntnisse hätten verschiedene Interessierte aber noch Hemmungen, sich an der Tessiner Politik zu beteiligen, sagte der Sekretär der SVP Tessin kürzlich der deutschsprachigen «Tessiner Zeitung».

Dominant, arrogant, exakt

Ruhig gleitet die blaue Standseilbahn von Locarno nach Orselina zur Klosterkirche Madonna del Sasso. Auf halber Strecke wohnt das Ehepaar Galli in einem Haus mit Seeblick. Er ist Tessiner, sie ist in der Romandie aufgewachsen. Ihre Nachbarn sprechen zum grossen Teil Deutsch. «Heute ärgern sich viele Tessiner, dass sie die schönsten Grundstücke über dem See an die Deutschschweizer verkauft haben», sagt Roberto Galli. Er mag aber nicht über die Deutschschweizer schimpfen. Vierzig Jahre lang hat er mit ihnen in der Chefetage der Maggia- und Blenio-Kraftwerke zusammengearbeitet. «Dabei habe ich viele gute Erfahrungen gemacht.» So habe er bei Anstellungen nicht «wie sonst im Tessin üblich» auf den politischen Hintergrund der Bewerber achten müssen. «Alleine die beruflichen Fähigkeiten zählten.» Auch bei Problemen habe man «rein technisch die beste Lösung gesucht». Im kleinen Tessin spielten sonst oft lokale Zwänge. «Man muss Kompromisse suchen, um verschiedene Seiten zufrieden zu stellen», sagt Galli. Das habe aber nichts mit «Mafia» zu tun, wie Deutschschweizer oft unterstellten.

Seine Frau, Renée Galli, hat unter ihren Freundinnen eine kleine Umfrage zu den wichtigsten Charaktereigenschaften der Deutschschweizer gemacht: Exaktheit, Dominanz und Arroganz waren die Spitzenreiter. Das lasse sich erklären, sagt Frau Galli. Mit dem vielen Geld, das die Deutschschweizer ins Tessin brächten, fühlten sie sich halt einfach stärker.

Was ihr jedoch «vollkommen gegen den Strich» gehe, seien Leute, die seit vierzig Jahren hier lebten und noch immer kein Wort Italienisch sprächen. Viele Deutschschweizer gäben sich keine Mühe, sich zu integrieren. Die Deutschen seien da allerdings noch viel schlimmer und darum noch weniger beliebt. Sie will aber keinesfalls alle in einen Topf werfen. So gebe es in ihrem Freundeskreis viele Deutschschweizer, die eine Tessinerin geheiratet hätten. «Die sprechen heute alle perfekt Italienisch.»

Alter hat Zukunft

Einer, der nie Italienisch gelernt hat, ist Johannes Reichel aus Deutschland. Seit 31 Jahren lebt er mit seiner Frau in Brissago, «am schönsten Fleck über dem See». Er habe zwar damals mit fünfzig Jahren, als er «wegen der Sozialisten aus Deutschland geflohen» sei, eine Italienischlehrerin angestellt. Aber er sei nun mal kein Sprachgenie, und es lasse sich hier bestens leben ohne Italienisch. Im Restaurant und in allen Geschäften finde sich immer jemand, der Deutsch spreche, sobald er oder seine Frau etwas kaufen wollten. Und mehr bräuchten sie nicht, sagt Reichel. Heute lebten sie bis auf den Kontakt zur deutschsprachigen Kirchgemeinde ziemlich zurückgezogen. «Wir haben einen schönen Zaun um unser Grundstück, und am Klingelknopf steht kein Name, denn die, die uns kennen, finden uns schon.» Reichel, der sein Vermögen mit Lacken und Strassenmarkierungen in Deutschland verdient hat, möchte auch nicht, dass seine Liegenschaft in Brissago fotografiert wird. «So weckt man nur den Neid», sagt er.

Theo Willimann aus Basel hatte ebenfalls keine grosse Lust, Italienisch zu lernen. Er wohnt heute in einer Siedlung in Locarno und hat viele Bekannte aus dem Deutschschweizerverein Minusio und Umgebung. Mit ihnen hat er eben wieder einen dreitägigen Ausflug gemacht. Der Verein bestehe seit den Dreissigerjahren, sei aber «stark überaltert». Früher habe man sich noch politisch engagiert, heute gehe es nur noch um die Freizeitgestaltung. «Aber eben, wir werden immer älter, viele sterben weg.» Von den 180 Mitgliedern hätten nur noch 18 am Ausflug teilgenommen.

Vor 21 Jahren hat Theo Willimann eine Zweitwohnung im Tessin gekauft, seit elf Jahren wohnt er nur noch hier und geniesst den Ruhestand an der Sonne. Es stimme schon, sagt er, viele schöne Grundstücke und – nicht zu vergessen – auch viele wichtige Jobs seien in Deutschschweizer Hand. Er habe jedoch den Eindruck, die Tessiner seien daran «mitschuldig, weil sie zu wenig Ehrgeiz an den Tag gelegt haben».

Viele Tessiner schreiben die hohen Krankenkassen- und Autoversicherungsprämien in ihrem Kanton den alten Deutschschweizern zu und ärgern sich einmal mehr über die «Zucchin». Die Zahlen scheinen ihnen Recht zu geben. In der Grossregion Zürich stieg der Anteil der älteren Personen (65 Jahre und aufwärts) zwischen 1980 und 2000 um 1,5 auf 15 Prozent, im Tessin dagegen um 3 auf 18 Prozent. Und die Statistiker sagen ein weiteres Auseinanderdriften voraus: Für 2040 rechnen sie mit gut 28 Prozent älteren Menschen im Tessin gegenüber 20 Prozent in der Grossregion Zürich.

Mehrere luxuriöse Seniorenresidenzen sind in den letzten Jahren am Lago Maggiore entstanden. Wohlhabende Deutschschweizer ziehen aus ihren Ferienhäusern in die Residenzen am See. «Nur etwa ein Fünftel dieser Leute geht im hohen Alter noch zurück in den Norden», sagt Fernando Brunner, Direktor der Residenz Al Parco in Muralto bei Locarno. Das zeigt sich unterdessen auch auf den Friedhöfen, wo man immer häufiger deutsche oder deutschschweizerische Namen liest: in Brione etwa Hans Blank, Heini Schwerzmann oder Sybille Meyhöfer. Seit den Achtzigerjahren werden die Grabsteine der Zugewanderten sogar – wie im Tessin üblich – mit einem Foto der verstorbenen Person versehen. Zumindest am Grab funktioniert die Integration unterdessen einwandfrei.

«Eine Minderheit»

80 Prozent der Bewohner des «Al Parco» sprechen Deutsch. Und Brunner, der auch den Tessiner Hotelverband präsidiert, hat nichts dagegen: «Unsere Region profitiert stark von den Deutschschweizern, die hier ihr Geld ausgeben – das wissen die Tessiner.» Natürlich kenne er die Vorbehalte, die gewisse Tessiner den Deutschschweizern gegenüber hegten, aber in den letzten Jahren habe sich das stark gebessert. «Tessiner, die sich über die Deutschschweizer nerven, sind heute eine Minderheit.»

Eva Erny hat andere Erfahrungen gemacht. Sie ist eine aufgeschlossene Frau, die Italienisch spricht und den Kontakt zur lokalen Bevölkerung sucht. «Unterdessen werde ich hier sogar gegrüsst.» Vor zweieinhalb Jahren ist sie mit ihrem Mann und den fünf Töchtern aus Südamerika in die Schweiz zurückgekommen und nach Locarno gezogen. Er hat hier die Pfarrstelle für die Deutschschweizer übernommen. Sie eröffnete ein Bed & Breakfast und hat erlebt, wie hart es sein kann, wenn man im Tessin leben will, ohne Tourist zu sein. Sie musste in Lugano das Wirtepatent machen und war die einzige Deutschschweizerin im Kurs.

«Was willst du eigentlich hier?», sei sie gefragt worden, als sie sich dagegen wehrte, dass der Unterricht in Dialekt geführt wird. «Ich habe schlicht zu wenig verstanden.» So hätten die Tessiner sie spüren lassen, wie es ihnen mit Hochdeutsch in der Deutschschweiz ergeht. Doch mit der Zeit seien die Kursteilnehmer auf sie zugekommen und hätten sie auf die unterschiedliche Optik aufmerksam gemacht: «Ihr glaubt, wir sässen immer unter der Pergola, tränken Merlot und hätten es lustig. Ihr liebt uns vielleicht, wir euch nicht unbedingt.» Diese Einstellung sei ihr nicht nur im Kurs begegnet, sagt Erny. Auch wenn man sich etwa bei einem Quartierfest unter die Leute zu mischen versuche, so sei das harte Arbeit. «Man kann sich nicht einfach hinsetzen, zusammen Wein trinken und dann Duzis machen – die Tessiner bleiben lieber unter sich.»

Die zweite Generation hingegen integriert sich erstaunlich schnell. Ernys Töchter sprechen unterdessen sogar mit ihren Deutschschweizer Freundinnen Italienisch. Das integrative Tessiner Schulmodell bekommt auch bei anderen Deutschschweizer Eltern gute Noten, und obwohl immer mehr ältere Sonnensucher aus dem Norden kommen, scheinen die Tessiner längerfristig nicht um ihre Sprache fürchten zu müssen. «Bei den Jungen setzt sich das Italienische schnell durch», bestätigt der Tessiner Linguist Sandro Bianconi.

Weiter nach Rheinland-Pfalz

Auch Manuel Riesens Tochter ist längst im italienischen Sprachraum zuhause. Sie schloss eben die Modefachklasse in Mailand ab. Ihr Vater dagegen, der vor siebzehn Jahren aus dem Emmental ins Tessin auswanderte, weil er glaubte, hier ginge alles «ein wenig ringer», hat unterdessen genug. Wer hier arbeite, merke, dass die Tessiner nur so lange gut Deutsch sprächen, wie sie kassieren könnten, sagt der Bauunternehmer. Ihm seien viele Steine in den Weg gelegt worden. So gebe es etwa für ein Auto oder ein Haus immer zwei Preise: «Der für die Deutschschweizer liegt etwa zehn Prozent höher.» Er gehe zwar als Kleinunternehmer oft in die Beiz, ein Feierabendbier trinken, aber seine näheren Freunde stammten dann doch aus der Deutschschweiz. Auch die Aufträge erhalte er fast ausschliesslich von Ferienhausbesitzern aus dem Norden. «Aber man darf sich da nichts vormachen», sagt Riesen, «im Emmental wars fast wie hier unten. Wenn einer von aussen kam, wollte man mit dem nichts zu tun haben.»

Nun hat Riesen jedoch genug davon, im Tessin nie richtig willkommen zu sein. Seinen Lebensabend will er nicht in der Sonnenstube der Schweiz verbringen. Am liebsten möchte er sich in Deutschland niederlassen. «In Rheinland-Pfalz gibt es ein mildes Klima, und das Leben dort ist günstig.»

Quelle: http://www.espace.ch/artikel_147548.html




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