KOPIE! Original nicht mehr im Netz!
Als die Visionen schrumpfen lernten
Spannender Lebenslauf, fließend Suaheli aber die Ethnologin findet keine Stelle. Schuld könnte ihr Anschreiben sein. Auf zur Trainingsmaßnahme!
Autor: SUSANNE SCHÄDLICH, Rheinischer Merkur, 01.07.2004
Die Aufforderung zur Maßnahme kommt per Post. Absender: Bundesagentur für Arbeit, Zweigstelle Berlin- Mitte. Jenes Amt also, das in der Hauptstadt für arbeitslose Akademiker zuständig ist. Der oder die Betroffene habe sich umgehend beim Maßnahmeträger zu melden. Im Kleingedruckten strotzt der Brief vor Rechtsfolgebelehrungen und Drohungen: Sperrzeiten wegen unentschuldigten Fehlens, Abbrechen der Maßnahme durch den Teilnehmer oder maßnahmewidrigen Verhaltens.
Und, so sagt sich der Angeschriebene zugleich trotzig und gedemütigt, das mir! Einem Geisteswissenschaftler! Als wüsste ich nicht, wie ich mich zu bewerben habe. Als hätte ich es nicht hundertfach getan.
Es nutzt alles nichts, das Training muss angetreten werden. Der Maßnahmeträger ist in diesem Fall die Akademie für Betriebswirtschaftliche Weiterbildung (bbw). Am Telefon meldet sich eine Sekretärin, die jeder Gegenfrage zuvorkommend gehetzt fragt, ob man sich jetzt anmelden wolle. Ein Ja bedeutet: Namen buchstabieren und auf die Frage nach der Kundennummer die Arbeitslosennummer nennen.
Eineinhalb Wochen später: Ein grauer Regentag im Juni. Die S-Bahn fährt in Richtung Moabit. Am S-Bahnhof Bellevue aussteigen, sechs Minuten Fußweg, so steht es im Brief, dazu der Lageplan der Akademie. Es ist kurz vor neun. Die Schritte werden schneller, wer will schon am ersten Tag zu spät kommen? Es ist nicht sicher, was dem Arbeitsamt alles gemeldet wird.
Über die Spree, vorbei am Ministerium für Inneres, dann bekommt die Adresse ein Gesicht: Alt-Moabit 91a, zweiter Stock rechts, Sekretariat der bbw.
Ein Mann und zwei Frauen warten mit Briefen in der Hand. Die Sekretärin will von dem Mann wissen, wohin er wolle. Er spricht gebrochenes Deutsch, sagt etwas von einer Trainingsnahme vom Arbeitsamt. Die Sekretärin wird ungeduldig, fordert ihn auf, seinen Namen zu schreiben, hier fänden immerhin elf Maßnahmen statt. Er buchstabiert seinen Namen. Sie fordert ihn wieder auf, seinen Namen zu schreiben, er buchstabiert.
Die Stimme der Sekretärin wird unangenehm laut, sie wolle nicht, dass er seinen Namen buchstabiere, sie wolle, dass er ihn aufschreibe. Der Mann schaut verständnislos zur Seite, er hat seinen Namen doch deutlich buchstabiert. Eine der Frauen schlägt ihm vor, der Dame einfach den Brief vom Arbeitsamt zu geben, sie könne eben besser lesen als hören. Sie nimmt den Brief, verweist den Mann in die Warteschlange und verschwindet in ihr Büro.
Sie kommt zurück, fragt die beiden Frauen, wohin sie wollten. Auch sie sagen etwas von einer Trainingsnahme vom Arbeitsamt und reichen ihr, wie um ihrer schrillen Stimme zuvorzukommen, die Briefe der Behörde. Sie verschwindet in ihr Büro, schaut in einer Liste nach, kommt zurück: Sie müssen in das Haus nebenan, 91 b, erster Stock. Zur Vergewisserung fragen die beiden noch einmal nach: 91b? Ja, sagt die Sekretärin, b wie blöd. Der Mann steht immer noch da.
Die beiden Frauen begeben sich ins Haus nebenan. Neben der gläsernen Eingangstür Schilder der Firmen, die hier ihre Büros haben, renommierte Computerfirmen, spanisches Fernsehen. Das Gebäude wirkt ungenutzt, im ersten Stock ein langer Flur. Links davon gehen Räume ab, die ersten beiden sind leer, weder Tisch noch Stuhl, nur grauer schmutziger Teppich. Nirgends ein Geräusch, sie wähnen sich schon am falschen Ort, öffnen trotzdem noch die Tür zu einem dritten Raum. Ja, hier sind sie richtig, hier findet die Trainingsmaßnahme für Akademiker statt.
Es stehen lange Tische in drei Reihen. Die beiden Frauen suchen sich einen Platz, sie erfahren, dass es schon etwas zu tun gibt. Jeder soll vom Sitznachbarn erfragen, wer und was er ist und später dann den anderen vorstellen.
Der Mann, der noch vor dem Sekretariat gewartet hatte, tritt ein. Er setzt sich an einen noch freien Platz in der ersten Tischreihe. Er ist aus Guinea. Er sagt, Ich habe in der Ukraine studiert, Bauingenieur. Ich bin seit 1993 in Deutschland, habe Familie hier. Ich habe gearbeitet. 1999 war die Firma insolvent. Dann war ich krank. Danach hatte ich keine Arbeit mehr.
Es gibt eine Ethnologin, eine Historikerin, eine Germanistin, eine Architektin, eine Erziehungswissenschaftlerin (Iranerin), mehrere Sozialpädagogen, eine Ökonomin (Russin) und einen promovierten Volkswirt. Insgesamt 13 Akademiker, elf Frauen und zwei Männer. Das Durchschnittsalter liegt bei Mitte dreißig. Und es gibt Fred, den Bewerbungstrainer, der in Wirklichkeit anders heißt. Er studiert Psychologie, steht kurz vor dem Abschluss und verdient sich hier als Honorarkraft ein kleines Extra. Die meisten dieser Bewerbungstrainings werden von Psychologen durchgeführt, die sich auf Wirtschafts- und Arbeitspsychologie spezialisiert haben.
Welche Erwartungen haben Sie an dem Kurs? Schweigen. Endlich was tun, wäre eine ehrliche Antwort. Doch nein. Eigentlich hat keiner Erwartungen an den Motivator, weil keiner freiwillig täglich vier Stunden hier sitzt. Die Erwartungen richten sich plötzlich an einen selbst. Das Beste daraus machen steht plötzlich den Teilnehmern auf der Stirn. Und endlich öffnen sie auch den Mund. Lieber reden, als sich langweilen. Also: sich Erfolg versprechend bewerben, versteckte Kodes bei Bewerbungen erfahren, Analyse des Arbeitsmarktes, Honorarmitgestaltung als Freiberufler, Bewerbung auf Englisch, Selbstmarketing im Auftreten, Weiterbildungsmöglichkeiten . . .
Weil plötzlich alle gleichzeitig sprechen wollen, wird gleich über die Frage Was ist Kommunikation? gesprochen.
Das Schulgefühl schleicht sich ins Leben der Mittdreißiger zurück, Wortmeldungen werden mit erhobenem Finger angezeigt, die Antworten in Stichpunkten gesammelt. Alles ganz schön und gut, doch: Haben Sie schon einmal etwas von Sender und Empfänger gehört? Natürlich. Und warum reden wir darüber? Natürlich weil es um Bewerbungen geht und um Bewerbungsgespräche. Und deshalb gibt es sogleich das kommunikationspsychologische Geleitwort: Eine Nachricht besteht aus vier Seiten. Wir sprechen bei jedem Kontakt zu einem anderen Menschen auf vier Weisen: Dabei ist der Sachinhalt das, was durch das gesprochene Wort ausgedrückt wird beziehungsweise beim anderen ankommt. Der Appell einer Botschaft beziehungsweise eine Handlung drückt die unausgesprochenen Wünsche und Sehnsüchte aus beziehungsweise was davon der auf sich bezieht. Im Beziehungshinweis wird ausgedrückt beziehungsweise aufgenommen, wie das Verhältnis der beiden Personen empfunden wird. Die Selbstkundgabe umfasst verborgene Werte und Triebe. Na bitte, doch etwas hinzugelernt. Fred schweigt, schaut in die Runde. Irgendetwas, das Sie gern teilen möchten?
Die Stunden vergehen überraschend schnell, der Unterricht zwischen 9 und 13 Uhr wird zum Teil des Alltags. Interessanter als die Tipps sind die Teilnehmer. In den Gruppengesprächen erzählt der eine oder die andere auch von sich. Die Russin zum Beispiel, die in Moskau Ökonomie studierte und 1993 nach Deutschland kam. Ihr Studium wurde hier nicht anerkannt. Also studierte sie zusätzlich BWL. Doch Jobs sind knapp, und zurück kann sie nicht. Ich habe keinen russischen Pass, sagt sie, und die deutsche Staatsbürgerschaft habe ich auch nicht.
Oder die Architektin, die seit 1999 mit ihrem Studium fertig ist. Zuvor war sie OP-Schwester, hat in einer Kardiologie-Intensivstation für Kinder gearbeitet. Natürlich kann ich immer wieder als OP-Schwester arbeiten. Aber das möchte ich nicht. Ich habe Architektur studiert und mir als Krankenschwester mein Studium finanziert.
Die Biografien verblüffen. Jeder hat einen ausgefallenen Lebenslauf, jeder hat Kenntnisse abseits vom Durchschnitt. Die Ethnologin etwa hat sich auf Afrika spezialisiert, spricht mehrere Sprachen, darunter Suaheli. Weil das Gespräch auf Afrika kommt, fragt jemand den Bauingenieur aus Guinea, ob es ihm in Deutschland eigentlich gefalle. Er lächelt verlegen und zuckt mit den Schultern. Vielleicht gehe ich mal ins Ausland, sagt er. Es ist aber schwierig. Ich habe eine Frau und einen 17-jährigen Sohn.
Fred klärt über die gängigen Methoden bei Einstellungen auf. Er erzählt von Assessment-Center, in denen Stellenbewerber auf Herz und Nieren geprüft werden, von Intelligenztransfer-System-Instituten, die im Auftrag von Arbeitgeber potenzielle Bewerber vorsondieren. Das Institut erstellt Profile und wertet sie aus; geprüft werden unter anderem Stresstoleranz, Teamfähigkeit, analytische und sprachliche Fähigkeiten. Die Bewertung erhält der Arbeitgeber zurück, je nach Punktzahl hat der Bewerber eine Chance, zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Er erzählt vom Mimikspiel, von Feedback-Regeln und Mind-Maps. Zur Übung soll jeder eine Mind-Map entwerfen. Ziel ist es zu erfahren, wo man sich beruflich in zehn Jahren sieht. Dabei sollen Wünsche wie Arbeitgeber, Stelle, Arbeitsklima, Entwicklungsperspektive, Lohn oder Gehalt, Verantwortung und Arbeitszeit eine Rolle spielen. Eine Selbstanalyse, statt grüblerisch deutsch im positiven American Style. Visionen statt Probleme.
Irgendwann müssen auch die Visionen auf DIN-A4-Format schrumpfen. Jeder Teilnehmer soll schließlich eine aktualisierte Bewerbungsmappe mit nach Hause nehmen. Nun erzählt Fred, was ein Lebenslauf ist, wie ein Anschreiben auszusehen hat. Bewerbungsvorlagen für die Wirtschaftsbranche dienen als Beispiele. Weil diese jedoch allzu wenig mit den Bedürfnissen der Anwesenden zu tun haben, werden eigene Lebensläufe und Anschreiben diskutiert und Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Hauptaugenmerk soll bei allem auf AIDA gelegt werden, weist der Dozent an. Haben Sie schon mal davon gehört?
Die Geisteswissenschaftler denken an Verdi. Doch gemeint ist das Attention Interest Desire Action-Modell. Wieder ganz amerikanisch. Ursprünglich für die Werbebranche konzipiert, kann das Modell ganz allgemein dort angewendet werden, wo etwas oder jemand verkauft werden soll. In diesem Fall der Arbeitssuchende. Und warum schon wieder amerikanisch? Es klingt eben schöner, sagt Fred.
Schließlich muss die Theorie in der Praxis angewendet werden. Noch drei Tage, dann ist der Kurs beendet. Nichts wie in den Computerraum! Die Lebensläufe bekommen den Feinschliff, aus den Bewerbungsschreiben verschwinden zu viel Bescheidenheit und zu dick aufgetragenes Selbstbewusstsein. Der Klick auf die Stellenbörsen im Internet ergibt nichts. Enttäuscht ist niemand, verbittert sind fast alle.
Laut Angaben der Bundesagentur für Arbeit wurden allein in Berlin in den Monaten Januar bis Mai dieses Jahres 24 818 Teilnehmer in ebensolche Trainingsmaßnahmen vermittelt. Da beginnt selbst der Geisteswissenschaftler zu rechnen: Kostenpunkt 584 Euro je Teilnehmer, insgesamt also fast 14,5 Millionen Euro. Wer profitiert wirklich davon? Vor allem die größeren Weiterbildungsträger. Die Bundesagentur für Arbeit hatte statt einzelner Maßnahmen im vergangenen Jahr ganze Maßnahmenbündel ausgeschrieben. Kleinere Träger zogen den Kürzeren, größere Unternehmen konnten Kurse zu Billigpreisen anbieten.
Auf die Frage, ob nicht offensichtlich ein Missverhältnis zwischen Kostenaufwand für die Maßnahmen und Nutzen bestehe, sagt Paul Moser, Pressesprecher der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg: Früher lautete der Vorwurf an uns, wir tun nichts für Arbeitslose. Jetzt tun wir etwas und stehen gleich wieder in der Kritik. Wir müssen alles tun, Arbeitslose zu aktivieren und sie bestens darauf vorzubereiten, auf Stellensuche zu gehen.
Nun wird also das Geld in Bewerbungstrainingsmaßnahmen gepumpt, während das Geld für Weiter- und Fortbildung sowie ABM-Stellen deutlich gekürzt wurde. Dazu erklärt Pressesprecher Moser: Es bringt nichts, Arbeitslose in die Arbeitslosigkeit zu qualifizieren. Wenn außerdem ein gesellschaftlicher Konzens herrsche, die Beiträge für Arbeitslose zu senken, dann habe das zur Folge, dass auch das Geld für Maßnahmen gezielter eingesetzt werden müssen.
Hat der Kurs Ihnen denn etwas gebracht?, fragt Fred am letzten Tag. Stille. Ich hätte mir weniger Kommunikationstraining gewünscht, bricht der promovierte Volkswirt das Schweigen, doch der praxisbezogene Teil war bereichernd. Es schadet nichts, den Lebenslauf wieder auf den neuesten Stand zu bringen. Und gerade der Austausch untereinander war fruchtbar und erleuchtend. Klingt sehr gut. Alle nicken.
Der Dozent sagt, ihm habe es Spaß gemacht mit dieser Gruppe: die Dynamik, die Diskussionen, die Vielseitigkeit. Das sei nicht immer so. Fred vergisst kurzzeitig die Regeln des positiven Denkens. Manchmal fühle ich mich vom Arbeitsamt regelrecht veralbert, schimpft er. Die schicken türkische Frauen, die kaum Deutsch sprechen, manche können nicht lesen und schreiben. Die wollen einfach nur einen Putzjob haben. Dann muss ich mir hier wirklich etwas aus den Fingern saugen.