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Kosmos Fussball: Früher verachteten die Intellektuellen den Fussball. Heute erforschen sie ihn
Ihr Herz schlägt für «Olympique Marseille», für die Franzosen überhaupt, und für Zinedine Zidane im Speziellen. Die Volkskundlerin Johanna Rolshoven hat in Marseille gelebt und dort den Aufstieg von «Olympique Marseille» erlebt. Das habe der Stadt im Süden Frankreichs einen erheblichen Prestigegewinn gebracht, «dafür musste man sich begeistern».
Rolf App, St.Galler Tagblatt, 19. Juni 2004
Beschäftigung für Grobiane
Dass Fussball eine Wissenschaftlerin wie Johanna Rolshoven zu begeistern vermag, erstaunt heute weniger, als es dies früher getan hätte. Weit zurück reicht nämlich die Geschichte der Sportkritik, die sie in ihrem an der Universität Zürich gehaltenen Vortrag zu den kulturwissenschaftlichen Facetten des Fussballs ausbreitet. Fussball: Das war eine Beschäftigung für Grobiane.
Dass er vor allem in den Zentren der Industrialisierung blühte, unterstrich dies noch. Fussball lenkte ab von der eigentlichen revolutionären Aufgabe der Arbeiterklasse - dies kritisierte die Linke der Weimarer Republik. Eine Argumentationslinie, die sich
bis in die 1968er-Bewegung fortsetzt. Für den Philosophen Ernst Bloch war Sport eine «kapitalistische Täuschung», nach Ansicht Theodor W. Adornos konsolidiere er die Unfreiheit der unteren Schichten. Noch 1987 bezeichnete Umberto Eco Fussball als «durch und durch faschistisch». Auch das Versinken des Einzelnen in der jubelnden Masse galt als bedenklicher Ausdruck kulturellen Verfalls.Ein Teil der Männerkultur
Johanna Rolshoven ortet dahinter eine «bürgerliche Angst vor Unordnung» - und stellt ihr den Reichtum aktueller Forschung gegenüber, die allerdings noch keineswegs alle Ecken ausgeleuchtet hat. Zum Beispiel zitiert sie den französischen Ethnologen Christian Bromberger, dass «Fussball vielleicht der letzte gemeinsame Nenner einer weltweiten Männerkultur» ist.
Es habe, erklärt Johanna Rolshoven, «erst wenige Bemühungen gegeben, Fussball als Teil dieser Männerkultur zu untersuchen, die für traditionelle, identitätsstiftende männliche Werte wie Körperlichkeit, Stärke, Aggressivität steht.» Frauen dürfen zwar durchaus Fussball spielen, ihr Tun wird von (männlich geprägten) Medien indes eher dem Kuriosen zugerechnet.Keineswegs nebensächlich
Ist Fussball nicht schlicht und einfach nebensächlich? Die Ethnologie hat das lange geglaubt. Mit der wachsenden Bedeutung von Freizeit und Musse im Leben des Menschen hat sich dies aber verändert. Sport sei eine «Arena symbolischer Auseinandersetzungen», sagt Johanna Rolshoven, und bringt den vom Ethnologen Marcel Mauss geprägten Begriff «Fait social total» ins Spiel. Dieses «Fait social total», ursprünglich für die Religionssoziologie entwickelt, beschreibe die «wichtige Dimension der sozialen Emotion». Es bezeichne ein Phänomen, das sich an der Grenze von Institution und Erlebnis bewegt, und in dem sich das Ganze spiegelt.
«Olympique» steigt auf
Der «Kosmos Fussball» hat bei aller Kontinuität tiefe Wandlungen erfahren. Der historische Fussball spielte im Milieu des Adels. Gespielt von der Machtelite des Staates zur Karnevalszeit, war er im Florenz der Renaissance ein Mittel zu ihrer Selbstdarstellung wie zur Festigung staatsbürgerlicher Tugenden. Der englischen Welt des 19. Jahrhunderts war dies nicht völlig fremd. Hier wurde auf dem Fussballfeld geübt, was einen in der Gesellschaft nach oben brachte: Erfindungsreichtum, Teamgeist, Bewährung in der Konkurrenz.
Daneben gab es aber den Fussball als Vergnügen der Unterschichten, als Ausdruck von Körperlichkeit und heftiger Emotion. Und es gab ihn als Vehikel des Aufstiegs ganzer Regionen: 1984 besiegte «Olympique Marseille» den Erzrivalen Lyon (ein Zentrum der Industrie) und stieg in die oberste Spielklasse auf.Das Lebensdrama im Spiel
Nicht nur eine Stadt der Einwanderer sah sich aufgewertet, sondern auch jene Mediterranität, die wir im Alltag sehr schätzen. «Man schwärmt im Fussball gern für den lateinischen Menschen», sagt Johanna Rolshoven. «Olympique Marseille» aber wurde zum Forschungsgegenstand der Ethnologen. «Dabei zeigte sich, dass Fussball zum modernen urbanen Ritual geworden ist. Das Spiel steht für das eigene Lebensdrama mit seinen Siegen und Niederlagen. Es lebt von der Polarisierung, ist aber zugleich Vehikel der Integration.» Im Sport drücke sich die Dynamik der Gesellschaft aus.
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