"Mit alten Traditionen hat das nichts zu tun"

Der Ethnologe Werner Schiffauer über Hintergründe von Verbrechen im Namen der Ehre

Seit Oktober 2004 sind in Berlin vier Frauen von ihren türkischen Ex-Männer umgebracht worden. In Tempelhof wurde eine junge Türkin vermutlich von ihren Brüdern erschossen. Müssen wir uns an sogenannte Verbrechen im Namen der Ehre gewöhnen?

Die Zahlen sind auf jeden Fall alarmierend. Allerdings muss man genau hinblicken und auseinander halten, was tatsächlich ein Ehrverbrechen im klassischen Sinne ist, oder aber ein Mord aus anderen Gründen, der dann als Ehrdelikt ausgegeben wird.

Was ist ein Ehrverbrechen im klassischen Sinne?

Der klassische Ort dafür ist das türkische, afghanische oder bosnische Dorf. Eine Familie will ihre Ehre gegenüber anderen wahren, um im Dorf handlungsfähig zu bleiben und sieht sich gezwungen, einen Mord zu begehen. Denn wer seine Ehre verliert, gilt als schwach, wird ausgegrenzt, kann seine Töchter nicht verheiraten.

Wann verliert eine Familie ihre Ehre?

Die Ehre einer Familie verbindet sich in symbolisierender Weise mit der Reinheit der Frauen. Wenn ein junges Mädchen vorehelichen Geschlechtsverkehr hat, oder wenn eine Ehefrau Ehebruch begeht, wird die Ehre der Familie in einer besonders drastischen Weise in Frage gestellt. Die Familie ist dann in einer Zwangslage ...

... und tötet einen Menschen?

Auch bei urkonservativen Muslimen gibt es die klare Aussage, dass die Entscheidung über Leben und Tod bei Gott liegt. Um der Reputation willen wird der Islam manchmal ignoriert. Exekutionen sind allerdings die Ausnahme. Oft ziehen die betroffenen Familien weg. Oder es wird nicht über solche Ehrverletzungen gesprochen, jeder schaut weg. Man weiß durchaus, dass die Konsequenzen furchtbar sind.

Nun leben wir aber nicht in einem türkischen Dorf ...

Genau. In Berlin fällt das überwiegende Handlungsmotiv weg: Der soziale Druck des Dorfes. Hier ist niemand gezwungen, seine Reputation zu bewahren.

Und trotzdem werden unter der Flagge der Ehre Menschen ermordet?

Das kann verschiedene Gründe haben. In Berlin gibt es in der türkischen Migrantengemeinde mehr zerrüttete Familien als in der Türkei. Das hängt einerseits mit der sozialen Situation zusammen - 40 Prozent der türkischen Migranten sind arbeitslos. Andererseits gibt es die vielen Ehen mit Partnern aus der Türkei.

Was meinen Sie damit?

Etwa die Hälfte aller türkisch- stämmigen Migranten in Deutschland heiratet einen Ehepartner in der Türkei. Da gibt es drastische Anpassungsprobleme. Ein Mann kommt beispielsweise nach Berlin, spricht kein Deutsch, hat keinen Job. Die Frau ist hier sozialisiert und hat einen Arbeitsplatz. Da gibt es Probleme mit den Rollen - wie verhält man sich zueinander, wer kümmert sich um die Kinder. Es kommt zu Gewalt, wie sie auch in deutschen Familien vorkommt. Die wird dann im Nachhinein mit der Ehre begründet, denn so kann der Mann besser sein Handeln legitimieren.

Kommt es in türkischen Familien häufiger zu Gewalt als in deutschen?

Die Statistiken deuten darauf hin. Allerdings müsste man gleiche Schichten miteinander vergleichen, um eine eindeutige Aussage zu haben.

In Tempelhof ging es vermutlich nicht um Eifersucht, da wurden die Brüder verhaftet.

Man muss jeden Einzelfall genau betrachten. Über den Tempelhofer Fall wissen wir zu wenig. In klassischen Ehrgesellschaften sind junge Männer zwar immer die Exekutoren der Ehre. Und es kommt in der Türkei tatsächlich vor, dass sie von der Familie beauftragt werden, eine Schwester oder Cousine zu töten. Die große Frage ist, inwieweit das für Berlin greift. Das Klischee, der Patriarch gibt den Auftrag: ,Legt die Ehrlose um und rettet die Ehre der Familie' - passt so gar nicht zu dem Milieu, das ich kenne.

Und wie ist dieses Milieu?

Das Gefühl der Ausgrenzung nimmt zu, je stärker junge Leute hier heimisch werden. Das heißt, für denjenigen, der hier lebt, wird Ausgrenzung besonders einschneidend empfunden. Ich erkläre das mal schematisch. Türken, die in der ersten Generation nach Berlin kamen, waren noch sehr türkisch geprägt. Die zweite Generation hat sich dann gegen Zuordnungen gewehrt und gesagt: ,Ich bin weder Türke noch Deutscher, ich bin ich und gehe meinen eigenen Weg.' Und dann haben wir die dritte und vierte Generation, die Erfahrungen mit Diskriminierung hat und sagt: ,Es ist cool, Ausländer zu sein. Hey Alter, wer bist du, dass du das Kopftuch verbietest.'

Wie äußert sich das im Alltag?

In einer Art Subkultur-Inszenierung. Man spricht fließend deutsch, unterhält sich aber bewusst nur in der abgehackten Kanak-Sprache. Die Mode spielt eine große Rolle, nach dem Motto: ,Wir sind die Trendsetter, wir kommen bewusst cool daher.' Bei anderen heißt es: ,Wir Türken haben Ehre, die Deutschen nicht. Wir Türken achten auf unsere Frauen, die Deutschen nicht.' Da wird der alte Ehrbegriff wieder hervorgeholt, werden die Frauen wieder instrumentalisiert, um eine Minderheitenposition zu markieren. Das ist potenziell gewaltträchtig.

Dann kann es sein, dass ein Bruder seine eigene Schwester erschießt?

Eine Jugendsubkultur kann durchaus den Nährboden für derartige Gewalttaten darstellen. Man kann sich in etwas hineinsteigern. Mit alten Traditionen hat das nichts zu tun. Diese Jugendlichen leben zu Hause nicht nach althergebrachten Traditionen. Und wenn sie vom Islam reden, dann oft ohne große Ahnung.

Spielen die Eltern dann gar keine Rolle?

Ich kann mir vorstellen, dass sie ihre Söhne zu so einem Mord nicht anstiften, dass sie aber im Nachhinein zu ihnen halten. Etwa in dem Sinne: ,Die Söhne haben es ja für unsere Ehre getan.'

Gespräch führte Sabine Deckwerth.

BerlinOnline, 25.2.05