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WESTSIBIRIEN

Die Chanten bangen um Taiga und Tundra. Ölfirmen nehmen dem Volk die Lebensgrundlage

Autor: VERA THÜMMEL, Surgut

Nach 24 Uhr; noch umhüllt das sanfte Licht der Mitternachtssonne das Blockhaus mit dem kleinen Fenster. Draußen schlägt Kutschi an. „Der Hund wird wohl einen Bären gewittert haben“, meint Kolja. In seinem Haus, gebaut aus massiven dunklen Holzbalken ohne einen einzigen Nagel und zwischen den Querbalken mit Moos verstopft, knistert das Feuer im Ofen. Kolja gehört zum Volk der Chanten, der indigenen Bevölkerung Westsibiriens – zu den „kleinen Völkern des Nordens“, wie sie auf Russisch genannt werden. Viele leben an den unzähligen Nebenarmen des Ob, der zu den größten Flüssen der Erde zählt und wie eine Ader das gesamte Territorium der Westsibirischen Tiefebene durchzieht. Mit Ehefrau Anja und Tochter Nelja wohnt er am Flüsschen Salma. Doch Hecht, Stör und sibirischer Weißlachs haben es hier nicht mehr so gut wie einst.

Kolja ist von kleinem Wuchs. Der 28-Jährige trägt ein verziertes Messer am Gürtel, eine Patronentasche und ein einfaches Gewehr. „Hier kann man oft einem Bären begegnen“, erklärt er. Er geht voran zu der Stelle am Fluss hinter seinem Haus, wo er gewöhnlich an einer schmalen Brücke seine Fischreuse befestigt. Hier überraschte ihn vor wenigen Tagen ein Bär. Kolja watet durch das Moor, jeden Schritt prüfend. Eine braune Landschaft, durchsetzt mit grau-grünen Mooshügelchen und bewachsen mit krummbeinigen sibirischen Zirbelkiefern und Tannen. Schwer riecht der Baldrian, der hier in großen Büschen wächst.

Mit dem Bären versöhnt

Kolja verschwindet im lichten Wald, plötzlich ein Schuss, und er kommt mit einer Ente zurück. Einen Bären hätte Kolja nur bei Gefahr geschossen, denn der Bär wird bei den Chanten wie bei den meisten sibirischen Völkern aufgrund seiner Stärke, Cleverness und Größe verehrt und gefürchtet. Man nennt ihn daher nicht beim Namen, umschreibt ihn respektvoll als „Alter mit den Krallen“. Wenn die östlichen Chanten einen Bären töten, werden ihm drei Tage lang Opferungen dargebracht, um sich mit dem Geist des Bären auszusöhnen. Sein Kopf wird an der Wand gegenüber dem Hauseingang aufbewahrt. Es heißt, er halte Schlechtes vom Haus und seinen Bewohnern fern. Auch vermeidet man zu sagen, dass ein Bär erlegt wurde, es heißt: „Er kam zu Gast.“

Um ein Vielfaches gefährlicher als dieser Gast sind die Fremden im Land der Chanten: brüllende und Feuer speiende Ungetüme. Ölgiganten mit unaufhörlich brummenden Bohrtürmen und rußenden Gasfackeln. „Nachts, vor allem während der langen Polarnächte, ist das Lodern der Fackeln weithin zu sehen“, sagt Kolja. Taiga und Tundra sind getränkt vom Erdöl. Über die Hälfte des russischen Erdöls wird in Westsibirien, im autonomen Bezirk der Chanten und Mansen, gefördert. Dieses Territorium ist mit 535 000 Quadratkilometern so groß wie Frankreich. Der Taigaboden, der lediglich zwischen Mai und August auf mehrere Zentimeter auftaut, ist nur in wenigen Gebieten für landwirtschaftliche Zwecke geeignet. Die Chanten ernähren sich von Fischen und Beeren und zusätzlich von der Jagd auf Kleintiere.

1997 unternahm der geologische Vortrupp für die Erdölgesellschaft Surgutneftegas auf dem Land von Koljas Familie zum ersten Mal Versuchsbohrungen. Seitdem hinterließen diese nicht nur viel Müll und Dreck. „Viele von uns haben seitdem Magen- und Blasenschmerzen. Viele wurden sehr krank. Doch die Ölfirma behauptet, wir hätten das schon früher gehabt, weil wir rohen Fisch essen“, empört sich Anna Petrowna, Koljas Mutter. Nachdem ihr Mann gestorben war, hat sie ihre fünf Kinder allein großgezogen.

Sie ging selbst auf die Jagd, fing Fische. Roher Fisch gilt bei Chanten wie bei Japanern traditionell als Delikatesse. „Durch die unterirdischen Explosionen und Bohrungen sind weniger Fische in unserem Fluss als früher“, sagt sie. Vorher gab es keine toten und verdorbenen Fische. Wenn der Schnee taut, sieht man die schwarze Ölschicht und gelbliches Wasser.

Mitte der neunziger Jahre raste Westsibirien mit mehr als 3100 registrierten Unfällen einer Ökokatastrophe entgegen. Eine starke Protestbewegung unter der indigenen Bevölkerung schaffte es, neue Rechte und Gesetze sowie eine Vertretung in der staatlichen Duma und der Duma des autonomen Bezirks durchzusetzen und die Tragödie abzuwenden. Leitfiguren dieser bis heute aktiven Bewegung sind die Schriftsteller Jeremej Aipin und Juri Wella, der eine Chante, der andere vom Nachbarvolk der Nenzen. Auf ihren Druck setzte ein Umdenkensprozess in der Erdölindustrie und Administration ein.

Kulturzentren und Museen wurden eröffnet, Kulturfestivals und internationale Forschungsprojekte finanziert. Beträchtliche Teile der veralteten Ölleitungen wurden jedoch bisher nicht erneuert. Noch kommt es zu Lecks, noch gibt es Gebiete, die verseucht sind. Das russisch-sibirische Öl, das Deutschland einführt, stammt überwiegend aus Westsibirien. Die Importmenge hat sich in den letzten Jahren sogar erhöht, ungeachtet der Verschmutzung und Probleme, die es bewirkt.

Vor zehn Jahren kam Anna Petrowna vom Markt in der Stadt heim und fand anstelle ihres Hauses nur noch verkohlte Überreste und rußverschmiertes Geschirr vor. Von weitem sah sie den Rauch der brennenden Taiga. Das ausgetretene Öl verursacht in heißen und trockenen Sommermonaten immer wieder großflächige Waldbrände. Auch binnen zehn Jahren haben sich der Boden und die Taiga in dieser Gegend noch nicht regeneriert. Eine geisterhafte silbergraue Öde mit verkohlten Ästen und bizarren, ausgebrannten Bäumen. An einem Baumgerippe hängt ein Rentiergeweih von beachtlicher Größe, wie eine Skulptur, die mahnend den Weg versperrt. Das Geweih gehörte einem ihrer Rentiere, sagt Anna Petrowna. „Voriges Jahr ist unser letztes Rentier gestorben – am Dreck.“ Leise setzt Kolja hinzu: „Es ist einsam geworden ohne die Rentiere.“

Die gelb leuchtende Mitternachtssonne wird bald hinter dem schwarzblauen Hochzeitssee versinken, an dem die Familie im Sommer wohnt, um Moskitos und Hitze zu entfliehen. Rentiere dienen den Chanten wie den übrigen „kleinen Völkern Sibiriens“ als Transporttiere. Nur im Notfall und für Opferhandlungen werden sie geschlachtet. Ihr Fell ist bei den harschen klimatischen Bedingungen von bis zu minus 40 Grad unentbehrlich: für Zelte, Winterbekleidung, Stiefel, Decken. Doch mit dem Bau von Trassen und Ölbohrtürmen sind in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren uralte Migrationswege der Rene zerstört worden. 1964 wurden 70 800 Rentiere gezählt, 1998 nur noch 32 300.

Mehr Selbstbestimmung!

Mit ihrem Sterben verschwinden aber nicht nur Traditionen der Chanten. Rentiere sind auch Symbol und Träger einer viele tausend Jahre alten Kultur, die auf dem Respekt vor dem ökologischen Gleichgewicht basiert. Die dünne fruchtbare Decke der Taiga mit ihren Früchten, Pilzen, Heilpflanzen und dem hellgrünen Rentiermoos, dem Hauptnahrungsmittel der Rentiere, wird von den Traktoren und Fahrzeugen der Erdölarbeiter zerfurcht, zermalmt, zerstört.

Anna Petrowna ist über sechzig – eine kluge, rüstige Frau, die als Familienvorstand alle Gespräche mit der Erdölfirma führt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie trägt ein buntes Kopftuch und ein mit winzigen Perlen besticktes Kleid. Ihr gehört das Stojbiche – der traditionelle Wohnsitz bei den Chanten – und das ererbte Land. Es ist weder durch Zäune von den Nachbarn abgegrenzt, noch gibt es genaue Karten; deshalb ist die Größe schwer erfassbar. Aber jeder Chante weiß, an welchem Baum oder Fluss das Land des Nachbarn beginnt, und das ist tabu.

Bis heute existiert kein Gesetz, das das Eigentum an Grund und Boden der indigenen Bevölkerung schwarz auf weiß fixiert. Die Erdölfirmen besitzen Lizenzen und somit weiterhin das Recht auf Erdölförderung. Seit Mitte der neunziger Jahre, so der Verantwortliche für die Belange der indigenen Bevölkerung bei Surgutneftegas, erhalten die Familien jener Höfe, auf denen Erdöl gefördert wird, regelmäßig Zahlungen für die Nutzung ihres Bodens. Darüber hinaus bekommen sie Schneemobile, Motorsägen, Boote und Benzin. Das sind 2150 Rubel, umgerechnet 65 bis 70 Euro pro Erwachsenen im Quartal – ein Hohn, verglichen mit den Milliarden an Ölprofit von Surgutneftegas, der sich heute als zweitgrößter Erdölmagnat Westsibiriens noch vor Jukos präsentiert.

„Einmal auf den Markt gehen, und die Hälfte des Geldes ist weg“, sagt Kolja. Auf dem Markt kaufen sie nur das Nötigste: Kartoffeln, Zwiebeln, Zucker, Salz, manchmal Karotten. Warum sie den Vertrag dennoch unterschrieben haben, der der Erdölfirma das Recht zu Erdölbohrungen auf ihrem Land gibt? „Wenigstens bekommen wir etwas Geld. Seit der Perestroika ist doch alles sehr teuer geworden.“

Arbeitsplätze sind für die indigene Bevölkerung aufgrund der schlechteren Ausbildung sehr spärlich geworden. Das hiesige Fischkombinat ist wie die meisten aller Betriebe bankrott gegangen. Früher garantierte es ihnen ein bescheidenes Einkommen und einen gesicherten Fischabsatz, Heute müssen sie lange Transportwege in Kauf nehmen und die Unsicherheit, ihren Fisch auf dem Markt nicht loszuwerden. „Kauf nicht bei den Chanten, ihre Fische haben Würmer“, raunen russische Verkäufer auf dem Markt in Nischnesortymski dem ausländischen Kunden zu.

„Wir müssen endlich das Recht auf Selbstbestimmung und auf Beteiligung an den Einkünften der Erdölfirmen bekommen“, betont Artjom, Koljas Bruder. Die sechsjährige Nelja, die Tochter von Kolja und Anja, wird von diesem Jahr an in die Internatsschule nach Nischnesortymski bei Surgut gehen. Das Internat existiert noch nicht lange, denn Nischnesortymski ist eine typische Erdölarbeitersiedlung, bestehend aus barackenartigen Häusern und Kantinen. Im Internat wird die erste chantische Schülerin die Schule nach der 9. Klasse fortsetzen und danach studieren.

Vielleicht wird auch Nelja einmal studieren, um die Nöte der Chanten publik zu machen. Vielleicht kehrt sie aber auch in ihre Heimat zurück, zu den kleinwüchsigen Zirbelkiefern und Tannen, zu Preisel- und Moosbeeren, wo jeder Schritt im Sommer gluckst und wo es viele heilige Stätten tief in den Wäldern gibt. Wird sie das Leben mit und in der Natur fortsetzen? Wird sie in eine der barackenartigen Wohnungen von Nischnesortymski ziehen, die den Chanten die Stadt- und Öladministration anbietet, in denen aber viele von ihnen wegen Arbeitslosigkeit und Vorurteilen, wegen Verlust an Identität und Selbstbestimmung zur Flasche greifen?

Unsere Autorin ist Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin

Quelle: Rheinischer Merkur




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