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Neues Deutschland - 23.11.04

"Mit der Geisterbahn durchs Fremdenland
Von »Parallelgesellschaften«, Bringschuld, Lust und Angst mit und in der Diaspora


Von Thomas Zitelmann

Meine Tochter, dreieinhalb Jahre, weiß nicht, dass sie auch fremd ist. Sie weiß, dass zu Hause zwei und manchmal drei Sprachen gesprochen werden. Papa sagt es so. Mama sagt es so. Im - zweisprachigen - Kindergarten nennen die Erzieher es manchmal so. Sie weiß, dass ein Ding mindestens drei Namen haben kann und dabei immer das gleiche Ding bleibt. Was sie nicht weiß, ist, dass das Bezirksamt sie bei der Einstufung zum Kindergarten als »nichtdeutsch« registriert hat - deutsche Staatsbürgerschaft hin, deutsche Staatsbürgerschaft her. Weil wir im Formular an entsprechender Stelle »zweisprachige Erziehung« angekreuzt hatten. Meine Tochter bewegt sich selbstverständlich und neugierig in einer gesellschaftlichen Grenzfläche, die durch Beweglichkeit und vielfältige Kommunikation gekennzeichnet ist. Die behördliche Einstufung »nichtdeutsch« wird von mir als abrufbare Bedrohung von Selbstverständlichkeit gelesen. Es ist auch eine Bedrohung für Deutschlands Beitrag zur europäischen Integration...


Instinkte und Zufälle

Fremde regen bereits ohne Anwesenheit zu Meinungen und Deutungen an. Psychologen haben den Vergleich mit einer Geisterbahnfahrt herangezogen, um Lust-Angst vor dem Fremden zu beschreiben. Manche lieben das mit unsicherer Neugier verbundene Gefühl der Lust-Angst, anderen fehlt die Neugier auf das Geisterbahngefühl, bei dritten löst es gespeicherte Ängste und Projektionen aus. Sie suchen instinktiv nach dem Vertrauten.

An dieser Stelle trennen sich zwei grundsätzliche Sichtweisen auf das Problem.
Die einen blicken auf Instinkte, auf genetische oder psychologische Grundsätzlichkeiten. Wenn instinktives grenzsetzendes Raumverhalten oder die Folgen frühkindlicher Mutterbindungen uns grundsätzlich koordinieren sollten, dann wäre der Spielraum für die Entwicklung von Vertrauen aus Unvertrautem heraus tatsächlich gering. Dem entsprechen nun wiederum weite Züge der menschlichen Entwicklung nicht. Andere betonen daher, dass es bei der Reaktion auf die Geisterbahn mindestens drei unterschiedliche Verhaltensmöglichkeiten - man kann auch von Registern sprechen - gibt.

Welche Register sich mehrheitlich durchsetzen, ob Neugier gekoppelt mit Lust-Angst, indifferentes Desinteresse oder Abwehr, ist mit gesellschaftlichen und historischen Lernprozessen, mit Möglichkeiten und Zufällen verbunden.


Ein Gespenst geht um

Die dieser Tage oft zitierten und gefürchteten »Parallelgesellschaften« sind nichts neues.

Betrachten wir ein verfremdetes Beispiel:

Eine Kette von politischen und sozialen Aufständen (wie etwa vor über 150 Jahren) findet ein Ende mit der Machtübernahme durch konservative Kräfte. Politische Flüchtlinge werden von einem entfernter gelegenen industriellen Zentrum aufgesogen. Dort finden sie unpolitische Arbeitsmigranten vor, die als Folge ihrer industriellen Kenntnisse in der neuen Wettbewerbsumgebung bereits einen marginalen Platz gefunden haben. Man hilft sich gegenseitig. Manche richten soziale Institutionen, Wohlfahrtsvereine und Bildungsstätten ein, die noch lange die Erinnerung an die Gründungssituation bewahren. Andere bleiben ihr Leben lang einem politischen Leben verhaftet, das zwischen Diaspora, kontinentaler und internationaler Politik schwankt. Die organisatorischen Strukturen zersplittern sich in politische Sekten. Unterschiedliche religiöse und weltliche Kodierungen sind im Umlauf, um Idealvorstellungen von Gemeinschaft durchzusetzen. Ein großes Thema ist die moralische Organisation der Wirtschaft. Einige Aktivisten haben sehr enge, familienbezogene Vorstellungen, oft religiös überhöht. Andere suchen Verbündete in der aufnehmenden Gesellschaft und darüber hinaus. Die letztere Position wird vor allem von zwei »Ideenunternehmern« vertreten. Die Positionen dieser beiden »Unternehmer« werden in der Zukunft zu unzähligen Situationen führen, in der ein »Gespenst« Gesellschaften verunsichert.


Marx und die Railway

Das »Gespenst« war der Kommunismus und die beiden »Ideenunternehmer« waren Marx und Engels. Die mikroskopische Perspektive eines »kleinen Deutschlands«, dem Fluchtpunkt gescheiterter Revolutionäre von 1848 und deutscher Arbeitsmigranten im viktorianischen Großbritannien, den die Historikerin Rosemary Ashton sehr anschaulich geschildert hat, verweist jenseits der großen Geschichte auf Migrations- und Integrationsgeschichten, die sich in unzähligen Varianten vollzogen haben und weiter vollziehen.

Das britische Imperium hat sich über ein Jahrhundert auch durch seine Attraktivität für Fremde und sein Aufsaugen von Fremden gestärkt. Das Deutsche Reich ist einen anderen Weg gegangen und schnell gescheitert. Vom ersten Scheitern nichts gelernt, ist es ein zweites Mal gescheitert. Beides war gut so. Größe organisiert man durch Aufsaugung von Fremdem. Solange eine kopftuchtragende, knollenverteilende Politesse in Deutschland undenkbar ist, sind die Chancen für erfolgreiche Strategien der Weltgeltung gering.
Am Rande bemerkt: Was die erfolgreiche Eingliederung von Karl Marx in den staatlichen britischen Eisenbahndienst verhinderte, war nicht seine Radikalität. Es waren auch nicht mangelnde Sprach- oder Landeskenntnisse. Es war seine unleserliche Handschrift.


Grenzflächen

Politiker sprechen gerne von »Bringschuld«, wenn sie von Einwanderern stärkere Anpassung an gesellschaftliche Mehrheitstrends erwarten. Damit erkennen sie an, dass es nicht um Geisterbahnfahrten geht. Geisterbahnen sind unschuldige Gegenstände. Fremde leben. Auf sie projektierte Fantasien wirken zurück. Auch Einwanderer haben Verhaltensspielräume, verfügen über soziale Register im Umgang mit Dingen und Situationen. Diese Register können besser oder schlechter gezogen werden. Auch sie sind wandlungsfähig. Neugier, Indifferenz und Angst sind drei Möglichkeiten, die zunächst mindestens doppelt, im eigenen und im fremden Bereich, auftreten.

Der systemtheoretisch argumentierende Ethnologe Georg Elwert spricht von einem dritten Bereich, der Grenzfläche, über die Register zusammengebracht und gesellschaftliche Neuerungen ausgetestet werden. In Gesellschaften, die insgesamt durch starke Kontrollmechanismen geprägt sind, ist diese Grenzfläche noch einmal besonders kontrolliert. Siehe DDR.

In offenen Gesellschaften muss die Selbstkontrolle der Handelnden wirken. Die kann, siehe Niederlande, an mehreren Enden versagen.

Emigrieren ist schwieriger als Erwachsenwerden. So sah es 1977 der an der Freien Universität Berlin lehrende Ethnologe Wolfgang Rudolph. Anpassung an lokale Altershierarchien ist leichter zu leisten, als im Erwachsenenleben von einer Gesellschaft in eine andere zu wechseln. Vertrautheit und Verlässlichkeit sind für viele an lokale Alters- und Generationsfolgen gebunden. Der mögliche Zusammenhang von Abwanderung und Erwachsenwerden lässt sich gesellschaftsvergleichend differenzierter betrachten. In vielen Gesellschaften des subsaharischen Afrikas gehören zum Erwachsenwerden Initiationsriten, die mit der Entwicklung neugieriger Angst-Lust auf Fremdes, Unvertrautes verbunden sind.

Die Reisen junger West- und Zentralafrikaner nach Europa können auch als Initiation in Verhältnisse gesehen werden, die durch die doppelte Situation von interner Unsicherheit und den Chancen äußerer Globalisierung geprägt sind. Eine jüngst von Fadia Foda und Monika Kadur am Deutschen Institut für Menschenrechte vorgelegte Studie zu beruflichen Chancen von anerkannten Flüchtlingsfrauen in Berlin und Brandenburg hat gerade bei Afrikanerinnen ein enormes Potenzial an Mehrsprachigkeit offengelegt, das beruflich völlig ungenutzt bleibt.


Sprache als Schlüssel?

Deutsche Sprachkenntnisse gelten hier zu Lande als Schlüssel zur Integration. Die erwähnte Studie deutet auf eine Nuance hin. Anerkannte Flüchtlingsfrauen in Berlin und Brandenburg, die individuell oder als Familie nicht am Sozialtopf hängen, sind keinesfalls diejenigen, die auch die besten deutschen Sprachkenntnisse haben.

In Großbritannien sind ethnische Nischen erkannte Motoren der beruflichen Eingliederung. Die Entwicklung parallelgesellschaftlicher Strukturen kann sehr rational sein, wenn die Mehrheitsgesellschaft die Ausschlusskriterien vom Einstieg zum Erfolg weit außerhalb der Sprachkenntnisse bestimmt. Meister der Ausgrenzung haben sich durch gemeinsame Sprache nie beschränken lassen.

Der Soziologe Georg Simmel hat zum Beginn des letzten Jahrhunderts den Fremden als Gast, der bleibt, beschrieben. Der Fremde erinnert Bleibende an Mobilität und Veränderung. Nichts bleibt wie es war. Die Grenzfläche in der Zusammenführung von Registern wird auf diese Weise zu einem umstrittenen Feld gesellschaftlicher Möglichkeiten und Veränderungen. Wenn Verhaltensregister über Grenzflächen in Kontakt kommen, in denen das Bleiben, das Beharren oder die Verwurzelung mit Beweglichkeit und vielfältiger Kommunikation konkurrieren, dann entwickelt sich ein Konfliktverhältnis. Regressives Beharren kann auch in Migrantenfamilien gepflegt werden, die sich in eigenen Alters- und Geschlechtshierarchien einrichten und diese religiös überhöhen. Eine islamische Besonderheit ist das nicht.

Das österreichische Deutsch kennt den Begriff der »Nostrifikation« und meint damit eine formale Aufnahme von Fremdem in Eigenes. Von verantwortlicher Politik kann erwartet werden, dass sie die Kunst der Nostrifikation pflegt.

Unser Autor (Jg. 1952) arbeitet am Zentrum Moderner Orient in Berlin und ist Privatdozent am Institut für Ethnologie der Freien Universität.

http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=63271&IDC=4





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