Gemütliche Gesellschaft
STUTTGART. "Auf der Suche nach ihren verloren gegangenen Hunden bedecken ihre Herren Wände, Telefonzellen und Elektromasten mit Suchanzeigen. Diese Texte sind sehr pathetisch gehalten, so dass man sich unmittelbar dazu aufgerufen fühlt, auf die Suche nach dem armen Tier zu gehen", schreibt der Ethnologe Flavien Ndonko aus Kamerun in seiner Forschungsarbeit zum Thema "Deutsche Hunde - Ein Beitrag zum Verstehen deutscher Menschen".
Handelsblatt, Antje Schmid, 22.3. 2006
Was sich banal anhört, lässt Rückschlüsse auf den Alltag und den Wandel in der deutschen Gesellschaft zu. Ndonko kommt zu dem Ergebnis, dass "die Desintegration der Familie sehr dazu beigetragen hat, dass in die deutsche Familie zunehmend Hunde integriert werden".
Das "Hunde-Thema" war schon immer ein gefragter Forschungsgegenstand ausländischer Wissenschaftler in Deutschland, meint der Tübinger Ethnologe Thomas Hauschild. Doch lange sei es in akademischen Kreisen nicht gern gesehen worden, dass dem eigenen Land der gesellschaftliche Spiegel vorgehalten wird. Man habe sich lieber mit der Erforschung anderer Völker beschäftigt, als anderen einen Blick in den deutschen Alltag zu gewähren, der eigene Verhaltensweisen in Frage hätte stellen können.
Seit einiger Zeit steigt das Interesse am Forschungsgegenstand Deutschland. Seit 1989 wurden im Ausland zunehmend Mittel dafür bereitgestellt. Aber auch Institutionen wie die Alexander von Humboldt-Stiftung, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und das Berliner Wissenschaftskolleg fördern ausländische Wissenschaftler, die sich mit Deutschland beschäftigen. So unterstützt der DAAD in Peking in den kommenden fünf Jahren das kürzlich eröffnete Zentrum für Deutschlandstudien mit 250 000 Euro - vorausgesetzt, die Peking-Universität investiert einen mindestens ebenso hohen Betrag.
Der russische Medienwissenschaftler Sergej Sumlenny arbeitet über die Beziehung zwischen Journalisten und Politikern. "Im Vergleich zu Russland ist mir aufgefallen, wie bereitwillig und professionell Journalisten hier Antwort bekommen", sagt er. Auffällig sei gewesen, wie etwa beim Stromausfall im Münsterland im November auch scharfe Fragen von Journalisten zugelassen und beantwortet worden seien.
"Das mag für deutsche Ohren seltsam klingen, doch man darf dabei nicht vergessen, wie wenig Erfahrung Russland bislang mit einem strukturierten Pressewesen hat", erläutert der 25-jährige Bundeskanzlerstipendiat. "In Russland gibt es ein Klischee, dass man als Journalist einem Politiker keine Frage stellen darf, die ihn ärgern könnte." Ziel von Sumlennys Forschung ist neben seiner persönlichen wissenschaftlichen Arbeit vor allem der Austausch mit deutschen Journalisten. Seine Erfahrungen will er nach seiner Rückkehr als Dozent an einer russischen Universität weitergeben. Die Deutschen erlebt Sumlenny, der mit seiner Familie in Frankfurt lebt, als sehr aufgeschlossen.
Lange war die Beschäftigung ausländischer Wissenschaftler mit Deutschland rückwärts gerichtet - konzentriert auf den Nationalsozialismus, die Geschichte des Dritten Reiches. Es habe vor allem emotionale Hindernisse gegeben, sich mit Deutschland zu beschäftigen, sagte die amerikanische Philosophin Susan Neiman kürzlich. "Es hat im Ausland, gerade in den USA, extrem lange gedauert, die Bilder der Konzentrationslager abzubauen. Ich erinnere mich an eine Freundin, eine Künstlerin, die in den achtziger Jahren als Stipendiatin nach Deutschland kam. Die hat in dem ganzen Jahr nur Schienen gezeichnet, Schienen, die ins Konzentrationslager führten. Alles, was in Deutschland von 1945 an passierte, war lange Zeit nicht präsent."
Neiman hat sich in ihrem Buch "Fremde sehen anders" mit dem Wahlkampf in der Bundesrepublik im vergangenen Herbst auseinander gesetzt. Positiv aufgefallen ist ihr dabei die Offenheit der Deutschen: "Anders etwa als die meisten Franzosen oder Amerikaner sind die Deutschen wirklich an den Meinungen Außenstehender interessiert. (...) Die gegenwärtige politische Kultur in Deutschland ist der ihres amerikanischen Verbündeten weit voraus, und zwar in einer Weise, die den meisten ausländischen Beobachtern größte Achtung einflößt", schreibt Neiman.
Diese Offenheit fasziniert auch den Chilenen Ignacio Farias. Der 27-jährige Soziologe und Sozialanthropologe ist begeistert von Berlin: "Das ist für mich als Südamerikaner wirklich eine Weltstadt. Ich erlebe kaum Vorbehalte gegenüber Fremden." Farias forscht im Rahmen des transatlantischen Graduiertenkollegs "Metropolenforschung Berlin - New York" der DFG über Tourismus. Er beschreibt unter anderem die unterschiedlichen Facetten, die bei Bustouren des City-Marketings und Stadtführungen privater Anbieter vermittelt werden. "Während das City-Marketing ein möglichst positives, zukunftsorientiertes Bild vermitteln will, das an die Atmosphäre im Berlin der zwanziger Jahre anknüpft, konzentrieren sich die privaten Gesellschaften auf die Geschichte der deutschen Hauptstadt im Nationalsozialismus und die Zeugnisse der ehemals geteilten Stadt." Die Perspektiven ausländischer Forscher können der Gestaltung von gesellschaftlichem Wandel dienen, argumentiert Wolfgang Kaschuba, stellvertretender Sprecher des Graduiertenkollegs zur Metropolenforschung, "auch wenn die Forschung nicht direkt zum Patent führt".
Der amerikanische Wissenschaftler Ted Fischer erforscht als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung den Einfluss von Moral auf die Arbeitseinstellung in Deutschland und vergleicht seine Ergebnisse mit Untersuchungen in Guatemala und den USA. "Das deutsche System unterliegt zurzeit einem großen Umbruch", sagt er. Steigende Arbeitslosenzahlen verlangten nach neuen Antworten auf viele Probleme. Besonders beschäftigt Fischer die "Idee einer gemütlichen Gesellschaft", die er als Amerikaner vorgefunden habe. "Ich habe wiederholt die Erfahrung gemacht, dass die Menschen bewusst auf Geld verzichten, um etwas für die Gesellschaft zu tun", sagt Fischer. "Trotz des steigenden ökonomischen Drucks in vielen Familien denkt man hier nicht nur ?ich?, sondern auch ?wir?. Das empfinde ich als sehr gesund für ein Land."
Deutsche Moral zeigt sich nach den Erfahrungen des 39-Jährigen auch bei Kleinigkeiten. So befragte er im Rahmen seiner Forschung Menschen im Supermarkt, warum sie Öko-Eier kauften und bereit seien, dafür mehr Geld auszugeben. Sein Fazit: Es existiert ein moralisches Bewusstsein, weswegen Kunden die teureren Eier von "glücklichen Hühnern" erwerben. Diese Haltung sei im Kaufverhalten der Amerikaner nur selten zu finden. Eines verbindet alle ausländischen Deutschlandforscher: Sie schätzen die Offenheit, der sie begegnen.
German Studies
Auftrag: Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) ist federführend bei der weltweiten "Förderung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Deutschland in universitärer Lehre und Forschung". Die ersten Zentren für Deutschland- und Europastudien wurden Anfang der 90er-Jahre in den USA gegründet - in Harvard, Georgetown und Berkeley.
Ziel: Einer jungen Generation von Multiplikatoren soll eine Deutschland-Expertise vermittelt werden, die Kontinuität in der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Partnerländern gewährleistet. Die Zentren sind auch Orte der Forschung und Politikberatung.
Projekte: Das neueste der weltweit 13 vom DAAD geförderten Zentren für Deutschland- und Europastudien ist in Peking. Relativ neu sind auch die Zentren in Sankt Petersburg und Wroclaw, dem früheren Breslau. Inzwischen existiert ein Netzwerk von Instituten in den USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Japan.