Australiens “gestohlene Kinder” – Eine anthropologische Auseinandersetzung
Stefan Haderer von der Uni Wien hat mir einen Essay geschickt, der auf seiner Diplomarbeit über Australiens rassisistischer Politik gegenüber Aboriginees basiert. Er schreibt über Australiens “gestohlene Kinder” - Kinder mit einem Aborigines- und einem europäischen Elternteil, die vor der Pubertät zwangshaft von ihren Eltern entfernt werden sollten, um in Weißen Institutionen bis zu ihrer Unmündigkeit (mit 21 Jahren) „zivilisiert“ zu werden. Haderer wirft auch einen kritischen Blick auf die Rolle unseres Faches.
In einem “richtungweisenden Urteil” hat soeben ein australisches Gericht einem Ureinwohner Schadensersatz für die Zwangstrennung von seiner Mutter zugesprochen.
Australiens “gestohlene Kinder” – Eine anthropologische Auseinandersetzung mit der Stolen Generation
von Stefan Haderer
Einleitung
Im folgenden Essay nehme ich Bezug auf meine Diplomarbeit „Forced to be ‘civilized’ – Australia’s Stolen Generation in the Light of 20th Century Assimilation Policies” (2007), welche ich am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien geschrieben habe. Die Arbeit wird voraussichtlich im Januar 2008 allen Studierenden und Interessenten zugänglich sein. Sie basiert auf einer ethnohistorischen Forschungsmethode mit einem diskursiv-analytischen Ansatz.
Während meines Auslandsstudiums an der University of Sydney in Sydney (Juli bis November 2006) konnte ich eine Forschung vor Ort durchführen. Schriftliche Quellen, welche unter anderem auch die Interviews zahlreicher betroffener Aborigines-Männer und –Frauen beinhalten, dienten mir als Vorlage meiner Arbeit. Ebenfalls hatte ich die Erlaubnis, in australischen Staatsarchiven, welche der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, zu forschen.
Ein zentraler Ansatz für meine Arbeit war, so viele verschiedene Stimmen und Aussagen wie möglich darzustellen und die kontroversen Ansichten im Licht der Wissenschaft möglichst objektiv zu kontrastieren.
Inhalt
Meine Forschung nimmt direkten Bezug auf die Stolen Generation, die heute noch ein politisches Thema in der Politik Australiens darstellt, da sich leider PolitikerInnen weigern, die Realität des Genozids an Aborigines-Kindern anzuerkennen und sich dafür offiziell zu entschuldigen. Was aber versteht man genau unter Stolen Generation?
Im Rahmen des australisch-kolonialen Protektionssystems, welches vorsah, Aborigines als „sterbende Rasse“ zu retten und ihnen deshalb Reservate zuteilte, entstand zunehmend die Forderung nach einer Assimilationspolitik. Diese basierte nach wie vor auf sozialdarwinistischen und sozioevolutionistischen Theorien, welche die europäischen Einwanderer als „höhere weiße Rasse“ darstellten. Die Mehrheit der australischen Bevölkerung nahm diese Ansicht unhinterfragt an und schaffte somit mittels Medien, Wissenschaft und Medizin einen Diskurs, der das Leben der Aborigines und ihrer Kinder wesentlich beeinflussen sollte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde zunehmend das „half-caste problem“ thematisiert. „Half-caste“ ist ein sozialdarwinistischer Begriff für sogenannte „Mischlingskinder“, d.h. Kinder mit einem Aborigines- und einem europäischen Elternteil. Diese Kinder wurden von angesehenen AnthropologInnen (z.B. A.P. Elkin) und WissenschaftlerInnen dieser Zeit als „rückständig“, „kulturlos“ (weil zwischen zwei Kulturen) und „unzivilisiert“ bezeichnet. Größtenteils waren es Kinder, die Opfer von Vergewaltigungen waren, welche fast täglich neben anderen Gewaltakten auf Reservaten durch Weiße Manager und Aufseher stattfanden.
Bis in die 1930er Jahre hatte die „half-caste“-Bevölkerung stark zugenommen – eine Entwicklung, die die Weiße Regierung Australiens mit Besorgnis beobachtete. Physische Anthropologen wie Cecil E. Cook und Gouverneure wie A.O. Neville und Paul Hasluck fürchteten den „Untergang der weißen Rasse“ und eine – in ihren Augen schädliche – „Vermischung der Rassen“, wie sie auch in Nazi-Deutschland zur gleichen Zeit angedroht wurde.
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