Australiens “gestohlene Kinder” – Eine anthropologische Auseinandersetzung
In der Commonwealth State Conference, welche 1937 in Canberra unter ausnahmslos Weißen Regierungsvertretern, Gouverneuren und Akademikern abgehalten wurde, wurde schließlich gesetzlich über das Schicksal jener „half-caste“-Kinder entschieden. A.O. Neville sah eine Lösung, indem diese Kinder vor der Pubertät zwangshaft von ihren Eltern entfernt werden sollten, um in Weißen Institutionen (Erziehungsanstallten, Wohlfahrtseinrichtungen und bei Weißen Pflegefamilien) bis zu ihrer Unmündigkeit (mit 21 Jahren) „zivilisiert“ zu werden.
Dieses Programm basierte auf der Annahme einer biologischen und kulturellen Assimilation: Aboriginality sollte den Kindern „ausgetrieben“ werden, sodass in den kommenden Generationen das „half-caste problem“ nicht mehr bestünde. So sollten die dunklere Hautfarbe, die Bindung zu Land, Vorfahren und spirituellem Wissen und die indigene Muttersprache komplett eliminiert und der „weißen christlichen Norm“ angepasst werden.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Welfare Board gegründet, welches die komplette Vollmacht über Aborigines-Kinder mit hellerer Hautfarbe erhielt. Die Elternteile und Verwandten auf Reservaten wurden als „unzurechnungsfähig“ angesehen, ihre Kinder als „vernachlässigt“ (neglected). Szenen wie die gewaltsame Trennung der Kinder von ihrer Mutter in Philip Noyce’s preisgekröntem Film Rabbit-Proof Fence (2002) waren leider grausame Realität und betrafen fast jedes 3. bis 5. Kind (vgl. Healey 1998). Schätzungen von ENIAR (European Network for Indigenous Australian Rights) setzen die Zahl der entfernten Kinder auf ca. 100.000.
Nach der gewaltsamen Trennung erwartete die Kinder ein Leben in einer Welt voll psychischer und physischer Grausamkeit. Dr. Paul Read, der Begründer einer der ersten Organisationen namens Link-Up, die auf die Stolen Generation in den 1980ern aufmerksam machte und Augenzeugenberichte in ganz Australien sammelte, schätzt, dass in Institutionen jedes zehnte und in Pflegefamilien jedes fünfte Kind ein Vergewaltigungsopfer war.
Trotz internationaler Einsprüche seitens Amnesty International und der Vereinten Nationen, die als „linke Propaganda“ abgetan wurden, setzte Australien die rassistische Politik des Kindesentzugs bis 1969 fort. Die Bevölkerung war vom kollektiven und positiven Nutzen des „Wohlfahrtssystems“ fest überzeugt. Gewalt und Leid, aussichtslose Zukunftsperspektiven und Akkulturation wurden absichtlich übersehen.
Das Magazin Dawn zeigte der Öffentlichkeit lachende Gesichter von weiß gekleideten, frommen Aborigines-Kindern in Heimen wie Kinchela und Cootamundra und setzte fröhliche Leitartikel darunter, um sie vom guten Zweck der Politik zu überzeugen. Verschwiegen wurde, dass das Lächeln der Kinder aufgesetzt war, dass sie selbst im Winter keine Schuhe bekamen und hungern mussten, wenn sie ihre handwerklichen Arbeiten nicht vor Tagesanbruch beendet oder ein Fahrrad „illegal“ benutzt hatten.
Nachdem die Kinder von ihrer Unmündigkeit befreit waren, durften sie als freie Menschen ins gesellschaftliche Leben. Sie galten zwar als „zivilisiert“, doch erwartete sie ein harter Kampf. Nur in den untersten Berufen, wie etwa als work boys, farmhands und Hausbedienstete konnten sie eine Anstellung finden, da das soziale Netz nach wie vor keinen Aufstieg für Aborigines vorsah – auch nicht, wenn sie als „zivilisiert“ galten. Das Geld, das ihnen eigentlich vom Welfare Board nach Vollendung des 21. Lebensjahres zustehen sollte, wurde den Kindern meist nicht ausgehändigt oder verheimlicht.
Aufgrund der physischen und psychischen Traumata, welche die Stolen Generation nach wie vor nicht verarbeiten konnte, wurden viele der Kinder obdachlos, Alkoholiker, drogenabhängig, suizidgefährdet oder gewalttätig gegen ihre eigene Familie.
Seit den 1980ern hat sich die Situation in Australien nicht wesentlich geändert. Die Stolen Generation ist kein Mythos der Vergangenheit, eine Sünde der Vorväter, über die man besser schweigen und in die Zukunft blicken soll – wie es sich Australiens Premier John Howard und zahlreiche anderen PolitikerInnen wünschen. Sie ist noch heute präsent – auf den Straßen in den Städten Australiens, in den Gefängnissen, in den Jugendschutzheimen, wo Aborigines-Kinder nach wie vor noch die größte Zahl einnehmen, aber auch in Statistiken, in denen Aborigines die höchste Selbstmordrate der Welt aufweisen.
Die Anregungen und Wünsche jener Menschen, die von der rassistischen Assimilationspolitik betroffen waren, ist lang. Viele von ihnen konnten – mit Hilfe von Link-Up und psychologischer Aufarbeitung der Vergangenheit – ein neues Leben beginnen. Viele von ihnen drücken ihre Träume und Ängste kreativ aus – als KünstlerInnen, SängerInnen oder in Form von Gedichten. Andere sind politisch engagiert und setzen sich aktiv für indigene Rechte ein, die nach wie vor in der australischen Weißen Gesellschaft wenig Anklang finden.
Die Stolen Generation ist somit ein wesentlicher Ansatzpunkt in der Auseinandersetzung mit Rassismus. Eine wissenschaftliche anthropologische Analyse kann dazu beitragen, die Gesellschaft aufzuklären, Zusammenhänge besser zu begreifen und Zukunftsperspektiven darzustellen.
Quellenangaben
ENIAR European Network for Indigenous Australian Rights. www.eniar.org/stolengenerations.html
HEALEY, Kaye. 1998. The Stolen Generation. Issues in Society Vol. 91. Balmain:The Spinney Press.
VILLELLA, Fiona A. March 2006. “Long Road Home: Philip Noyce’s ‘Rabbit-Proof Fence’”
http://www.sensesofcinema.com/contents/01/19/rabbit.html
Stefan Haderer, Student der Kultur- und Sozialanthropologie. Kontakt: ath_steph_3000 (at) hotmail.com
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