Journal Ethnologie 2/2007 ueber Medizinethnologie
"Heilung und Wandel" ist das Thema der neuen Ausgabe von Journal Ethnologie, das vom Frankfurter Museum der Weltkulturen herausgegeben wird. In dieser Ausgabe geht u.a. darum, wie sich sogenannte "westliche" Medizin und sogenannte "traditionelle" Medizin gegenseitig beeinflussen.
Eine Berufskrankheit vieler Ethnologen ist das Kulturalisieren sozialer Phaenomene (Ueberbewertung kultureller Faktoren, Ausblenden von Politik, sozialer Verhaeltnisse etc). So auch in der Medizinethnologie.
In ihrem Text Infektionen und Ungleichheiten. Warum „kulturelle Differenz“ nicht immer die richtige Diagnose ist, macht uns Anke S. Weber mit der kritischen Medizinethnologie bekannt. Es gibt sicher Epidemien, die kulturelle Ursachen haben. Dies ist jedoch eher selten, schreibt die Ethnologin. Häufig können Verhaltensweisen von den Betroffenen nicht einfach geändert werden:
Gesundheit und Krankheit stehen in direktem Zusammenhang mit Armut, mit dem Zugang zu medizinischer Infrastruktur (wie Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken), mit Machtverhältnissen und strukturellen Mängeln. Dass eine direkte Verbindung zwischen Infektionen und sozialen Ungleichheiten besteht, demonstriert die kritische Medizinanthropologie.
Die Critical Medical Anthropology ist eine Entwicklung der 1980er- und 1990er-Jahre und konzentriert sich auf zwei Kritikpunkte, so Anke S. Weber weiter:
Zum einen stellt sie die Annahme in Frage, dass die westliche Biomedizin als eine empirische Wissenschaft frei von kulturellen Kontexten und Vorannahmen sei.
Zum Zweiten legt sie offen, dass gesundheitliche Mängel, Umfang und Erfolg der medizinischen Versorgung oft kulturellen Differenzen zugeschrieben werden, obwohl globale politische und ökonomische Ungleichheiten auf das Ausmaß und die Verteilung von Krankheiten einen ungleich größeren Einfluss haben.
Zum Beispiel haben über eine Milliarde Menschen auf der Erde aufgrund von Krieg und Vertreibung, Umweltschäden durch Wirtschaftsprojekte oder Marginalisierung in Ghettos keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. So infizieren sich täglich Millionen an kontaminiertem Wasser mit Hepatitis, Typhus, Ruhr oder einer der anderen sogenannten wasserbezogenen Krankheiten, die ohne Behandlung tödlich verlaufen.
Einer dieser kritischen Medizinanthropologen ist Paul Farmer. Infektionen und Epidemien, meint er, bewegen sich nicht entlang kulturell unterschiedlicher Verhaltensweisen, sondern verbreiten sich entlang von Wohlstandsgefällen:
Paul Farmer und einige andere Ethnologen und Anthropologen formulieren ihre Texte als eindeutige Proteste gegen die Verwechslung von strukturellen Missständen mit kultureller Differenz. In „Infections and Inequalities” entwirft Farmer ein Plädoyer für eine empathische Gegenbewegung, für die Beseitigung selektiver Blindheit im Westen und für mehr Fürsprache und Engagement durch Wissenschaftler und Entscheidungsträger.
(...)
Jährlich sterben über drei Millionen Menschen an Tuberkulose, obwohl die Krankheit heilbar ist. Farmers Bücher sind eine Anklage an die verantwortlichen Institutionen: die Weltbank, die Pharmaindustrie, transnationale Unternehmen. Aber sie zeigen auch Faktoren auf, die unsere Fähigkeit, die Trends von Epidemien zu erkennen, verschleiern.
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Uebersicht ueber die Texte in der neuen Ausgabe:
Ruth Kutalek: Malerei aus Tansania. Ein Einblick in die Sammlung Ethnomedizin in Wien
SIEHE AUCH:
Poverty and health policies: Listening to the poor in Bangladesh
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