Kriminalisierung kritischer Forscher in Deutschland?
(via Kulturwissenschaftliche Technikforschung) “Wissenschaftlich arbeiten ist wieder gefährlich und wird, ehe man sich versieht, mit Freiheitsentzug bestraft", schreibt Harald Jähner in der heutigen Ausgabe der Berliner Zeitung. Der Berliner Soziologe Andrej Holm ist verhaftet worden, weil er verdächtigt wird, eine “terroristische Vereinigung” namens “Militante Gruppe” unterstützt zu haben, die in Berlin und Brandenburg zahlreiche Autos angezündet haben soll.
Viele Wissenschaftler sind alarmiert, weil sich die Indizien hauptsächlich auf seine wissenschaftliche Arbeit beziehen. In den wissenschaftlichen Texten des promovierten Soziologen fänden sich laut Bundesanwaltschaft “Schlagwörter und Phrasen", die in den Texten der “militanten Gruppe” gleichfalls verwendet würden, darunter der in der Stadtforschung gebräuchliche Begriff der “Gentrification“:
Andrej H. veröffentlichte zuletzt das Buch “Die Restrukturierung des Raumes - Machtverhältnisse in der Stadterneuerung im Ostberlin der 90er-Jahre.” Er arbeitet intensiv an einem europäischen Netzwerk von Stadtforschern namens “The urban experience". Die Wissenschaftler der Humboldt-Universität vermuten besorgt, dass ihn gerade diese Tätigkeit in den Augen der Bundesanwaltschaft verdächtig macht. Deren Ermittler argumentieren nämlich, Andrej H. stünden “als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen".
Verdächtig mache ihn auch seine Intelligenz. Er verfüge über die “intellektuellen und sachlichen Voraussetzungen, die für das Verfassen der vergleichsweise anspruchsvollen Texte der militanten Gruppe erforderlich sind". Vielleicht ist es wirklich sicherer, doof zu sein.
>> weiter in der Berliner Zeitung
In einem Interview mit Telepolis warnt Soziologe Rainer Rilling, vor den Konsequenzen falls nun die Anklagebehörde mit diesen Beschuldigungen Erfolg hat:
Dann würde jede Wissenschaft unter einem Anfangsverdacht stehen, militanten Aktivitäten zuzuarbeiten. Dann würden es sich Wissenschafter überlegen, ob sie bestimmte Begriffe wie beispielsweise Gentrifikation für eine Umstrukturierung eines Stadtteils noch weiter verwenden. Dieser Begriff, der den niederen englischen Adel bezeichnete und zur Kennzeichnung der Aufwertung von Stadtteilen in die internationale Wissenschaftssprache Einzug gefunden hat, würde dann unter Verdacht stehen.
Wie die taz schreibt gehoert zu den Verhafteten auch ein Politologe, der sich wie der Soziologe mit der Stadtentwicklung vor allem in Prenzlauer Berg auseinandersetzte. Anlass waren die geplante Umwandlung eines Hauses zum Hotel und die von der Bundesregierung geplanten Mieterhöhungen für Ostberlin. Aus diesen Aktivitäten gründete sich 1991 die Gruppe “Wir bleiben alle", der sowohl H. als auch der Politologe angehörten. Aufsehen erregte auch eine Studie, die der beschuldigte Politologe 1997 verfasst hatte. Darin kam er zum Ergebnis, dass aufgrund Gentrifizierung über die Hälfte der 140.000 Bewohner den Prenzlauer Berg verlassen hatten.
Nur einen knappen Monat vor seiner Verhaftung wurde Andrej Holm von der Bundeszentrale fuer politische Bildung interviewt zu Stadtentwicklungsprozessen im Globalisierungszeitalter.
Es gab bereits viele Solidaritaetsaktionen fuer die Festgenommenen. Mit Slogans wie “Ich bin Promotionsstudent und daher verdächtig” demonstrierten 100 Menschen vor der Justizvollzugsanstalt Moabit. Natuerlich gibt es eine Soli-Webseite und einen Soli-Blog mit mehr Infos zum Fall.
Diese Geschichte reiht sich ein in die gegenwaertige Politisierung der Wissenschaften und Einschraenkung von Meinungs- und Forschungsfreiheit. Die neueste Meldung stammt von heutigen “Inside Higher Education": Pessimistic Views on Academic Freedom: A greater percentage of social scientists today feel that their academic freedom has been threatened than was the case during the McCarthy era (via Savage Minds)
AKTUALISIERUNG (17.8.07): “Internationaler Wissenschaftler-Kreis sieht in Deutschland die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr und fordert die “sofortige Einstellung des 129a-Verfahrens” und die “umgehende Freilassung der Inhaftierten". Nun ist der Protest international geworden, erfahren wir auf dem Blog Kulturwissenschaftliche Technikforschung
AKTUALISIERUNG (15.8.07): (via Kommentar von Orange): Noch mehr Aktionen gegen kritische Forscher, die auf Demonstationen gehen und sich für eine gerechtere Globalisierung einsetzen: Studierende unter Generalverdacht. Bundeskriminalamt beschlagnahmt Seminarlisten meldet die AStA der Uni Bremen:
Am 09.05.07 fand an der Universität Bremen im Rahmen einer bundesweiten Aktion der Bundesanwaltschaft eine Hausdurchsuchung statt. Diese richtete sich gegen den Lehrbeauftragten Dr. Fritz Storim, welchem nach $129a die “Bildung einer terroristischen Vereinigung zur Verhinderung des G8-Gipfels” vorgeworfen wird. Die Bundesanwaltschaft kommentierte Ihr Handeln mit den Worten: “Die heutigen Untersuchungen sollten Aufschluss bringen über die Strukturen und die personelle Zusammensetzung von diesen Gruppierungen, und dienten nicht in erster Linie zur Verhinderung von konkreten Anschlägen. Dafür gab es keine Anhaltspunkte".
Bei der zeitgleichen Durchsuchung von Privaträumen Dr. Fritz Storims stellte das Bundeskriminalamt (BKA) unter anderem sämtliche TeilnehmerInnenlisten sowie Arbeitsmaterialien der von ihm in den letzten Jahren an der Universität Bremen angebotenen Seminare sicher. Damit sind auch Kommilitoninnen und Kommilitonen der Uni Bremen ins Fadenkreuz der Ermittlungen geraten. Ihre Daten liegen den deutschen Strafverfolgungsbehörden nun in Verbindung mit dem Vorwurf des Terrorismus vor. Es muss davon ausgegangen werden, dass alle SeminarteilnehmerInnen Dr. Fritz Storims von der Polizei und dem Staatsschutz überprüft und die gewonnenen Erkenntnisse sowie die Verbindung zu einem potenziellen Terroristen (ihrem Dozenten) in den entsprechenden Datenbanken gespeichert werden.
Siehe auch:
Bush, “war of terror” and the erosion of free academic speech: Challenges for anthropology
Blogging and Public Anthropology: When free speech costs a career
Fired from Yale, anarchist professor points to politics
USA: Censorship threatens fieldwork - A call for resistance
The dangerous militarisation of anthropology
Protests against British research council: “Recruits anthropologists for spying on muslims”
San Jose: American Anthropologists Stand Up Against Torture and the Occupation of Iraq
Zur gleichen Zeit bekommt Ethnologe Erwin Orywal nun Morddrohungen wegen Dialogs mit Muslimen
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