Erforschte das Leben illegalisierter Migranten
Rund 100 000 Migranten leben ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Wer sind diese “Sans-Papiers”? Wie überleben sie im Schatten der Gesellschaft? Diese Fragen untersucht Raphael Strauss in seiner Lizenziatsarbeit am Institut für Sozialanthropologie der Uni Bern.
In der Arbeit, die nun liegt nun als Arbeitsblatt 44 des Instituts vorliegt, hat der Ethnologe elf Migranten im Alter zwischen 22 und 47 Jahren, interviewt. Seine Informanten kommen aus Polen, Kolumbien, Kamerun, Mazedonien, Nigeria und Algerien.
Raphael Strauss hatte sich selber für die Sans-Papier-Bewegung in der Schweiz engagiert und arbeitete zudem in einem Durchgangszentrum für Asylbewerber. Kontakte aus dieser Arbeit waren ihm sehr hilfreich, denn über Menschen zu forschen, die sich ständig versteckt halten müssen um nicht “ausgeschafft” zu werden, ist nicht gerade einfach.
“Sans-Papiers” werden von Politikern und Journalisten oft als “illegale Einwanderer” bezeichnet. Der Ethnologe weigert sich, die Terminologie zu übernehmen, denn “kein Mensch ist illegal". Er bezeichnet sie als “illegalisierte Migranten":
Durch die konsequente Verwendung des Adjektivs «illegalisiert» soll auf der einen Seite darauf aufmerksam gemacht werden, dass der irreguläre Aufenthalt unter Umständen rein durch Gesetzesänderungen verursacht worden sein kann, auf der anderen Seite soll deutlich gemacht werden, dass die Bezeichnung der Illegalität – auf Menschen angewendet – ein politisches Konstrukt ist, da Illegalität als Solche die Ungesetzlichkeit und Abwesenheit von Rechten beinhaltet.
Lediglich der Aufenthaltsstatus eines Menschen kann ungesetzlich sein, nicht jedoch der Mensch selbst.
(…)
Ähnlich problematisch sind die Ausdrücke der «illegalen Migration» und des «illegalen Aufenthaltes», da der Begriff der Illegalität oftmals mit kriminellen Praktiken oder Handlungen verbunden wird. Aus diesem Grund werden jeweils die Begriffe «irreguläre Migration» und «irregulärer Aufenthaltsstatus» verwendet, welche sich auch im politischen und wissenschaftlichen Bereich international durchgesetzt haben.
In der Arbeit werden wir mit einer Vielfalt von Schicksalen bekannt. Darunter befinden sich abgelehnte Asylbewerber genauso wie eine gelernte Hebamme aus Polen, die in der Schweiz arbeiten gehen wollte und nun bei Privatpersonen Wohnungen putzt und aeltere Leute pflegt.
Vielen geht es sicherlich wie «Claudine» aus Kamerun:
Claudine ist ursprünglich aus Kamerun und besuchte in Frankreich die Universität, wo sie einen Schweizer kennen lernte, sich in ihn verliebte und mit ihm in die Schweiz kam.
Als französische Studentin lebte sie die ersten drei Monate mit einem Touristenvisum hier, anschliessend wäre die Heirat mit ihrem Freund geplant gewesen, doch die Beziehung stellte sich als Fehlschlag heraus, ihr Freund verliess sie und Claudine blieb alleine in der Schweiz zurück.
Ihr Visum war abgelaufen, ebenso die Verlängerungsfrist für die Universität in Frankreich, weshalb sie fortan ohne Aufenthaltsbewilligung hier lebte.(…) Da sich Claudine aufgrund ihres Wegzuges mit dem Schweizer Freund auch mit ihrer Familie zerstritten hatte, konnte sie nicht zurück, weshalb sie beschloss, trotz allem in der Schweiz zu bleiben.
In Kapitel 6 über Lebensrealität illegalisierter Migranten schreibt er zum Thema Integration:
Ihr Leben ist also geprägt durch den Versuch, möglichst unauffällig zu bleiben, sich nicht unnötig an öffentlichen Plätzen aufzuhalten, möglichst alle Kontakte mit Behörden zu vermeiden und nur äusserst vorsichtig soziale Kontakte zu knüpfen. Diese durch die rechtliche Situation erzwungenen Umstände behindern viele integrationsfördernde Aktivitäten.
Dem gegenüber steht allerdings die Tatsache, dass unzählige Sans-Papiers dies sehr gut meistern, ihr Leben ohne Aufenthaltsbewilligung führen können und sich bei ausserordentlichen Ereignissen zu helfen wissen. Ein derartiges Leben zu führen, ohne aufzufallen, deutet wiederum auf eine sehr gute Integration hin.
Zum Thema Finanzen:
Die Reduzierung der persönlichen Ansprüche auf das Notwendigste wird von den meisten InterviewpartnerInnen implizit praktiziert, Barry beispielsweise gibt sich mit einer Mahlzeit am Tag zufrieden (wenn möglich) und vergleicht die Situation auch mit seinem Heimatland, woher er es gewohnt sei, teilweise einen Tag lang nichts zu essen.
Zu Gesundheit / Psyche:
Viele der befragten erwerbslosen Sans-Papiers empfinden ihr Leben unter diesen Umständen als ein nicht menschenwürdiges Dasein, oder wie es David ausdrückt, als «somewhere in between life and death».
Bei einigen geht die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit gar bis zu Selbstmordgedanken, da kein Sinn im eigenen Leben erkannt werden kann. Über die Hälfte der InterviewpartnerInnen berichten zudem über konkrete gesundheitliche Auswirkungen, indem sie unter Schlaflosigkeit, Schlafstörungen oder Alpträumen litten.
Die wenigsten Schwierigkeiten haben sie um Umgang mit dem Gesundheitswesen (es gibt u.a. einige hilfreiche Aerzte) und in der Schule. “Die Einschulung von Sans- Papiers-Kindern ist seit längerer Zeit gängige Praxis und der Datenschutz im Normalfall problemlos gewährleistet", schreibt der Ethnologe.
Bei andersdeutsch gibt es regelmässig Infos zum Thema, siehe u.a. die Beiträge Aus der Festung Europa und Illegalisierte kochen.
Swissinfo schreibt von einem Kampf gegen “Eheverbot” für Sans-Papiers und Solidarité sans frontières informiert über die Woche der MigrantInnen, die nächste Woche in der ganzen Schweiz stattfindet.
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