(AKTUALISIERUNG Ethnologie und Militär: Der Protest hat genutzt - mehr updates weiter unten) “Bundeswehr-Werbung im Ethnologie-Seminar?” schrieb ich vor einer Woche. In einem Offenen Brief an die Tübinger Ethnologie fordern Mitglieder mehrerer Organisationen, das Hauptseminar “Angewandte Ethnologie und Militär” unter der Leitung von Bundeswehr-Ethnologin Monika Lanik abzusagen. Ansonsten werde es “im Vorfeld und auch während des Seminars zu Störungen kommen". Interessanterweise befinden sich keine Ethnologen unter den Unterzeichnenden.
An Prof. Dr. Bernd Engler, Prof. Dr. Stefanie Gropper, Prof. Dr. Roland Hardenberg, Mitarbeiter_innen der Abteilung für Ethnologie am Asien-Orient Institut und die Presse.
Sehr geehrte Damen und Herren,
in Afghanistan wird de facto Krieg geführt, wie mittlerweile auch die Bundesregierung eingesteht. Dass sie de jure die Definition als Krieg für den Einsatz der Bundeswehr zurückweist hat schlicht damit zu tun, dass ein solcher Kriegseinsatz weder mit dem Grundgesetz, noch mit dem internationalen Recht noch mit dem ISAF-Mandat zu vereinbaren wäre. Darüber hinaus wird das Töten und Töten-Lassen von Menschen, wie es den Krieg und den Alltag in Afghanistan charakterisiert, von einer Mehrheit der Bevölkerung aus ethischen und moralischen Beweggründen abgelehnt.
Kürzlich hat sich die Universität Tübingen in der Präambel ihrer Grundordnung dazu verpflichtet, „Lehre, Forschung und Studium an der Universität sollen friedlichen Zwecken dienen, das Zusammenleben der Völker bereichern und im Bewusstsein der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen erfolgen.“ Wir begrüßen das ausdrücklich!
Dies steht jedoch in eklatantem Widerspruch zu der Tatsache, dass bereits im ersten Semester nach dem Beschluss der neuen Präambel am Institut für Ethnologie ein Seminar mit dem Titel „Angewandte Ethnologie und Militär“ stattfinden soll, gehalten von einer Ethnologin, die selbst für die Bundeswehr, u.a. in Afghanistan, tätig ist und vom Bundesverteidigungsministerium bezahlt wird. Sie wird Methoden darlegen, wie Ethnologen bei Konflikten wie in Afghanistan für die Streitkräfte unterstützend tätig werden können um solche Kriege führ- und gewinnbar zu machen. Die als Reaktion auf den Protest einiger Studierender eilig in das Seminarprogramm eingefügte ethische Fragestellung ist angesichts der Stellung der Lehrenden unglaubwürdig.
Sollte dieses Seminar tatsächlich stattfinden, so würde die Universität jegliche Glaubwürdigkeit hinsichtlich ihrer neuen Präambel verspielen. Das wäre eine traurige Konsequenz.
Für schlicht unerträglich halten wir die Tatsache, dass das Seminar ganz unabhängig von Zivilklausel, Forschung und Lehre auch deutliche Züge einer Rekrutierungsveranstaltung trägt, mit der EthnologInnen für den Dienst für das „umgangssprachlich Krieg“ führende Verteidigungsministerium gewonnen werden können und dass diese Veranstaltung aufgrund des bescheidenen Angebots an Lehrveranstaltungen im Hauptstudium darüber hinaus einen gewissen Pflichtcharakter trägt.
Wir bitten Sie deshalb inständig, zu intervenieren, damit dieses Seminar nicht stattfindet. Ansonsten gehen wir davon aus und sollten auch Sie davon ausgehen, dass es im Vorfeld und auch während des Seminars zu Störungen kommen wird.
Mit freundlichen Grüßen,
Carol Bergin (Initiative Colibri), Ilse Braun und Markus Braun (Ohne Rüstung Leben), Hans und Waltraud Bulling (Save-Me Kampagne und AK Asyl), Dr. Anne Frommann (Senioren für den Frieden), Benno Malte Fuchs (DFG-VK Tübingen und Informationsstelle Militarisierung IMI e.V.), Gudrun Kleinhaus (Mahnwache Tübingen), Christoph Marischka (IMI e.V.), Tobias Pflüger (IMI e,V.), Penelope Pinson (Tübingen Progressive Americans), Jens Rüggeberg (Friedensplenum/Antikriegsbündnis Tübingen), Ingrid Rumpf (AK Palästina), Michael Schwarz (Friedensplenum/Antikriegsbündnis Tübingen), Jürgen Wagner (IMI e.V.), Walburg Werner (Friedensplenum/Antikriegsbündnis Tübingen) und weitere.
Laut den Aktivisten des Infoportal Tuebingen hat sich Rektor Engler mittlerweile “in vielen Punkten schockiert über die ihm bis dahin angeblich unbekannte Vita der Frau Dr. Lanik” gezeigt und kündigte an “den Fall zu prüfen".
NEU:
Es gibt wenig Informationen im Netz zu den neuesten Entwicklungen, und es scheinen sich merkwürdigerweise nur Linksaktivisten dafür zu interessieren. Die meisten Ethnologinnen schweigen weiterhin.
Wortgefechte zu Beginn: Haptseminar über Ethnologie und Militär nahm die Arbeit auf (Schwäbisches Tagblatt 24.4.10)
Interview mit Marxistischer Aktion zum Seminar “Angewandte Ethnologie und Militär” (Bildungsseminar der Wüsten Welle, 24.4.10)
Militarisierung durch die Hintertür (Junge Welt, 20.4.10)
Streit zwischen Friedensgruppen und Lehrenden um Uni-Zivilklausel und Studenten störten eine Veranstaltung über Sicherheitspolitik (Schwäbisches Tagblatt, 16.4.10)
Daten und Fakten zu Frau Dr. Lanik (jpberlin.de, 16.4.10)
SIEHE AUCH:
Bundeswehr-Werbung im Ethnologie-Seminar?
The dangerous militarisation of anthropology
Der offene Brief wurde nicht von Organisationen, sondern von Einzelpersonen aus denjenigen Organisationen, die am “Runden Tisch der Friedensbewegung” in Tübingen beteiligt sind, unterzeichnet. Nur unter diesen ist der Brief vor seiner Veröffentlichung zirkuliert. Das erklärt, warum bei den Erstunterzeichnern keine EthnologInnen vertreten sind. Mittlerweile haben sich weitere UnterstützerInnen gemeldet, darunter auch erste EthnologInnen.