(aktualisiert) Das Potenzial der Wirtschaftskrise - Riesen-Forschungsprojekt in Wittenberge zu Ende
Fast drei Jahre lang haben 28 Ethnologen und Soziologen das Leben einer Stadt im Niedergang teilnehmend beobachtet. Künstler wurden auch in den Forschungsprozess eingebunden. Das Ergebnis wird heute u.a. in einer Sonderausgabe der ZEIT gross präsentiert.
Die Industrie ist am Ende. “Die Zahl der Einwohner ist von 30.000 auf 18.000 zurückgegangen, und die einzigen Zuzügler sind die Soziologen, die durch die leeren Straßen wandern und beobachten, wie man so lebt in der Stille", schreibt die ZEIT über Wittenberge, zwischen Hamburg und Berlin im Osten Deutschlands gelegen.
Die «brutale Wahrheit» von Wittenberge. Das Fazit ist düster. Ob die Bürger die Wahrheit ertragen? titelt der Tagesanzeiger. Der Ton in den vielen Zeitungsberichten ist düster. “Noch immer schrumpft die vergreiste Stadt. Im Stadtkern wohnen die Armen, unzählige Häuser stehen leer", so der Tagesanzeiger weiter. Und: “Die wichtigste Erkenntnis der Wissenschaftler ist: Vom einstigen sozialistischen «Wir» ist in Wittenberge nichts mehr zu spüren.”
Doch all das Negative ist vielleicht nicht das Interessanteste. Spannender wär vielleicht die Frage: Wie gehen die Einwohner mit dem Niedergang um? Die Frankfurter Rundschau spricht dieses Thema kurz an und betont, dass man in Wittenberge keineswegs nur auf Verlierergeschichten stösst.
Es sind neue Perspektiven entstanden, und mit den Soziologen haben die Wittenberger das Potenzial entdeckt, das im Gefühl der Unterlegenheit schlummert. Mit Blick auf Lösungsansätze und Interpretationsangebote geht selbst aus sozialen Brennpunkten oft ein bemerkenswertes soziales Kapital hervor.
(Hier ist Arjun Appadurais Text Deep democracy: urban governmentality and the horizon of politics evt relevant)
In der Stadt wurden die Forscher kritisch beäugt. Manche hatten den Eindruck, die Forscher seien zu sehr auf das Elend fixiert. Die Zeit schreibt:
Einmal, so erzählt der (ostdeutsche) Soziologe Wolfgang Engler, sei ein Stadtforscher mit der Kamera durch Wittenberge gezogen und habe die totesten Stellen der Stadt fotografiert. Und während er weiter ging, merkte er, dass er verfolgt wurde. Ein kleiner Zug von »Eingeborenen«, so Engler, sei dem Mann auf den Fersen geblieben. Er konnte sie nicht abschütteln; sie griffen ihn nicht an, aber sie waren alarmiert; sie wollten sich, so Engler, nicht abfinden mit dem »beschämenden Gefühl, von anderen in der eigenen Misere beobachtet zu werden«.
Wittenberg wurde nicht isoliert untersucht, sondern im europäischen Kontext. Aehnliche Prozesse laufen in anderen Städten ab. Neben Wittenberge gab es verwandte Untersuchungen im pfälzischen Pirmasens und im rumänischen Victoria. Wittenberge, sagt Projektleiter Heinz Bude, gibt es auch in Litauen oder Wales.
Das Forschungsprojekt hat eine informative Netzseite http://www.ueberlebenimumbruch.de/
AKTUALISIERUNG (5.3.10): Die Elends-Berichte nehmen kein Ende in den Zeitungen. Doch Projektleiter Heinz Bude sagt in einem Gespräch mit der Schweriner Volkszeitung: “Das soziale Drama ist das falsche Bild. Wir haben viele Formen gefunden, wie Menschen hier ihr Leben meistern.”
Nun sind längere Texte auf der Webseite der ZEIT zu lesen, v.a. der spannend geschriebene Artikel Zum Beispiel Wittenberge. Hier erfahren wir mehr über das Doktorgradsprojekt der Ethnologin Anna Eckert. Große Teile ihrer Doktorarbeit zur Lebensführung in der Erwerbslosigkeit basieren auf der Analyse vom Leben einer Hartz-IV-Empfängerin, die sie “Inge” nennt:
Inges Biografie ist eine der typischen Geschichten, die der Umbruch geschrieben hat. Bis zur Wende arbeitete die gelernte Schlosserin im Nähmaschinenwerk, seitdem hatte sie außer einigen Ein-Euro-Jobs keine Arbeit. »Zukunft« ist für Inge schon lange keine Kategorie mehr. Seit Jahrzehnten bleiben die Chancen aus, Gelegenheiten haben sich nie ergeben, es eröffnete sich keine Perspektive. Ihre Arbeit ist verschwunden. Und sie kommt nicht wieder.
Inge weckt sich jeden Morgen um fünf Uhr. Es beginnt ein strikt durchorganisierter Alltag. Das Ziel: Zeit verbrauchen. (…) Fragt man die Hartz-IV-Empfängerin nach ihren Träumen, so hat sie keine. Fragt man sie nach Dingen, die ihr wichtig sind, zuckt sie mit den Schultern. Nach einer langen Pause sagt sie »mein Partner«.
Wir lesen ausserdem:
Ob es »Gewinner«, »Verlierer«, Kleingärtner, Unternehmer, Rentner oder Fernfahrer waren, die interviewt wurden – eines zieht sich durch alle Forschungsergebnisse. Das ist die wichtigste Erkenntnis der Wissenschaftler: All diese Gemeinschaften stehen wie Säulen nebeneinander, der Umbruch der Wende hat das organische Ganze der Stadt zersprengt. Seitdem ist der Ort in Gruppen zerteilt, die sich mehr oder weniger deutlich und scharf nach außen abgrenzen. (…) Im Unterschied zu anderen strukturarmen Gegenden im Westen von Deutschland wiegt in Wittenberge das Gewicht der Vergangenheit schwer. Der Kontrast zum einstigen, sozialistischen »Wir« lässt die heutige Zersplitterung der Gesellschaft umso tiefer und stärker spürbar werden.
>> weiter in der ZEIT
Eine gute Idee: Das ZEITmagazin bat die Forscher, 25 zentrale Beobachtungen über die Stadt zusammenzustellen
SIEHE AUCH:
Forschungsthema: Wie überleben in Wittenberge?
Dissertation: When the power plant, the backbone of the community, closes down
Zentrale Lage, menschenleer: Ausstellung Schrumpfende Städte (Berlin)
Urban anthropologist: “Recognize that people want to come to the big cities”
2 Kommentare
Kommentar von: Herwig
Kommentar von: lorenz
Ich hoffe nicht, dass die Forscher solch einen Eindruck hinterlassen haben, Sinn des Projektes war ja anscheinend, mit dem Bewohnern zusammen zu forschen.
Die Medienberichte geben nicht unbedingt ein korrektes Bild wider. Ich lese in der taz, dass die Bewoner auf die ersten Veröffentlichungen “schockiert” reagiert hætten - siehe Vorgeführte Verlierer (taz 25.3.10). Ein Theaterstueck soll das Bild entgegenruecken - siehe Andere Bilder als das Stereotyp (taz 25.3.10)
Es ist (1) deprimierend, nicht einen selbstkritischen Satz über die Kategorien des westdeutschen Gedächtnisses zu lesen, der (1a) auf das politische Instrument “Stasi” verweist, (1b) sich eine 20jährige Überheblichkeit der Sicht der Dinge herausnimmt, und (1c) den Staat DDR als sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Souverän bis heute nicht anerkennt, um statt dessen ein “sozialistisches ‘Wir’” zu konstruieren. Deshalb erschreckt es (2), dass nicht eine Zeitung auf die realen Ergebnisse des Beitritts nach damaligem §23 kritisiert. Die Rezension ist gut, die Studien in ihrem Gehalt für einen, der in den 90ern in der Region aufgewachsen ist, keine neue Info, aber wichtig. Schade nur, das hochsubventionierte Studien das Anschauungsobjekt wie einen Tierpark betrachten. Wie lange bleiben die ehemaligen Bewohner der DDR und ihre Nachkommen stigmatisierbar?