Vorurteile über Stämme in Libyen: “Haben nichts mit der Realität zu tun”
Herausforderung für Libyen: Die Stämme, titelt der ZDF. 40 Stämme und Volksgruppen: Zerfällt Libyen in drei Teile? fragt die Bildzeitung besorgt.
Nach dem Fall Gaddafis wird über die Rolle der “Stämme” in Libyen diskutiert. Vieles was wir da über die Stämme zu hören bekommen, hat nichts mit der Realität zu tun, sagt Ethnologe Thomas Hüsken in einem Interview mit der taz. Von den “Spekulationen über einen möglichen Stammeskrieg” hält er nichts:
Die Vorstellung von den Stämmen als miteinander verfeindete, atavistische Gemeinschaften, die mit Blut, Ehre, Scham, Schande verbunden ist, lässt sich vielleicht gut vermarkten. Mit der Realität hat sie nichts zu tun. Die Stammespolitiker sind erfahrene Lokalpolitiker und verfügen über entsprechendes Know-how. Begriffe wie Konsens, Stabilität und Interessenausgleich sind ihnen nicht fremd (…)
Sie haben in den letzten sechs Monaten im Osten für rechtlich Stabilität gesorgt, eine friedliche Ordnung aufrechterhalten und Dienstleistungen wie Strom, Wasser gewährleistet. Das zeigt, dass das tribale System in Libyen funktioniert.
Das Spektrum politischer Ansichten innerhalb der Stämme ist gross:
Es gibt Rechtsanwälte oder Ärzte, die im Ausland waren, die ein ganz anderes politisches Portfolio haben als Politiker, die vor allem der lokalen politischen Gemeinschaft verankert und viel konservativer sind. Aber es ist nicht so, dass zwischen den Stämmen polarisiert wird. So ein Stamm ist kein kollektiver Akteur mit autoritären Kommandostrukturen.
Die Stammespolitiker sind ausserdem nicht gegen den Staat. Was sie wollen ist eine Partnerschaft. Demokratie und Tribalität widersprechen sich nicht.
Hüsken ist Mitarbeiter im Forschungsprojekt “Die Herausbildung nicht-staatlicher Formen von Herrschaft im heutigen Afrika” an der Uni Bayreuth.
Er ist bereits früher zu Libyen interviewt worden, u.a. im Deutschlandradio
NEU Schöner Kommentar von Ingrid Thurner, Teilnehmende Medienbeobachtung: Medien, Stämme und Stereotype:
Dieses neue Stammesdenken erinnert an die alte Ethnologie, jene Wissenschaft, die zunächst Völkerkunde genannt wurde, und die sich die außereuropäische Welt handlich in Stämme oder Ethnien einteilte.
(…)
Afrikanische Intellektuelle hatten mit dieser Einteilung gar keine Freude. Sie wussten, dass sie zu simpel ist und sozialen Realitäten nicht gerecht wird. Sie lehnten den Biologismus solcher Konstruktionen ab, und sie warfen der Ethnologie Tribalismus vor, den es zu überwinden gelte. Denn Menschen leben nicht isoliert nebeneinander, sondern sie teilen Lebensräume und Ressourcen, gehen Symbiosen, Allianzen, Konflikte und Heiraten ein.
SIEHE AUCH:
Tunesien, Libyen und Ägypten: Medien interviewen Ethnologinnen
Anthropologists and stereotypes about Libya and Japan
“Stone Age Tribes", tsunami and racist evolutionism
Neueste Kommentare