Was haben Corona-Hamsterkäufe mit der AIDS-Epidemie zu tun?
Leergeräumt: Egoistisches Verhalten ist gewöhnlich zu Beginn von Krisen. Foto: bazzadarambler, flickr
Nicht nur Virologen sind bei einem Virusausbruch, wie wir ihn derzeit weltweit erleben, gefragt. Auffallend viele Anthropologen (Ethnologen) sind in den Medien präsent. Wie wichtig es ist, das menschliche Verhalten zu verstehen, haben uns ja u.a. die Hamsterkäufe gezeigt. Warum räumen die Menschen die Supermarktregale leer, horten Klopapier, Dosenspaghetti, Seife und Desinfektionsmittel und lassen somit ihre Mitmenschen leer ausgehen? Ist das Verhalten der Menschen noch schlimmer als der Virus selbst?
Für den Medizinanthropologen Hansjörg Dilger ist dieses egoistisches Verhalten gar nicht überraschend. Es ist typisch für den Anfang von Epidemien. Es gibt sogar ein Fachwort dafür sagt er in einem Interview mit der Welt, und zwar soziale Anomie (ein Begriff vom Soziologen Emile Durkheim).
Dilger erkennt bei Corona Muster, die er von anderen Epidemien kennt, u.a. von der AIDS-Epidemie, über die er viel geforscht hat, erklärt er:
Gerade zu Beginn einer Epidemie wissen die Menschen nicht genau, ob sie individuell konkret gefährdet sind und wie eine Ansteckung verläuft; gesicherte Erkenntnisse verbreiten sich erst nach und nach. Bis dahin versuchen die meisten erst einmal, ihren eigenen Schutz zu sichern; dann denken sie an ihr unmittelbares Umfeld und erst danach an den Schutz der Gesellschaft als Ganzes. Diese Reaktion findet man eigentlich bei allen Epidemien.
Ich habe sehr viel zu HIV/Aids im ostafrikanischen Tansania gearbeitet. Dort konnte man sehen, wie gewisse Werte zeitweilig aufgehoben wurden - gerade wenn die Belastungen in den Familien übermäßig waren: Verwandte zogen sich zurück, Patienten blieben auf sich gestellt oder starben sogar alleine. In den Sozialwissenschaften nennt man das "soziale Anomie": Das heißt, dass Regeln, Normen und Verbindlichkeiten unter solchen Bedingungen teilweise oder ganz außer Kraft gesetzt werden - zum Beispiel der ethische Wert einer Gesellschaft, füreinander da zu sein.
Dieses Verhalten hänge auch damit zusammen, dass uns in Mitteleuropa die Erfahrung fehle, wie bedrohlich solch ein Virus werden kann. "Das haben uns andere Länder voraus; nicht nur die asiatischen", sagt er. Bislang sei der reiche Norden von Epidemien eher verschont geblieben: "Von hier aus gesehen waren das letztlich immer die Krankheiten der anderen." Das habe sich völlig verändert.
Eine extreme Gattung der Hamsterkäufer sind die Prepper. Zu ihrem Lebensstil gehört es dazu, sich ständig auf Krisen und Katastrophen vorzubereiten. Julian Genner vom Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg studiert dieses Phänomen. Ihnen geht es nicht nur um Klopapier, sondern auch um das Horten von Ausrüstungsgegenstände wie Gaskocher, Kerzen, Outdoor-Ausrüstungen und Rucksäcke, um gegebenenfalls schnell aus dem Krisengebiet fliehen zu können, infolge einer Medienmitteilung. „Die Popularität dieses Trends passt in eine Zeit, in der viele Menschen eher pessimistisch in die Zukunft blicken“, sagt er.
Die Prepper sind ihm zufolge jedoch nicht für die leeren Supermarktregalen verantwortlich, wie wir im Interview mit der Stuttgarter Zeitung erfahren:
Sicher haben manche Prepper jetzt auch aufgestockt. Aber die meisten lehnen sich zurück und sagen: Ich habe keine Panik. Ich habe von allem genug zu Hause. Ich muss mich jetzt nicht in die Schlange stellen. Ich kann ganz gelassen abwarten, ob die Ausgangssperre kommt. (...) Diese Leute sagen, Vorbereitung ist eine Form gesellschaftlichen Engagements. Wären alle vorbereitet, müsste jetzt niemand Hamsterkäufe tätigen. Diese Leute sehen Preppen als Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft. (...) Manche bezeichnen sich ohnehin lieber als Krisenvorsorger. Diejenigen, die es ernst nehmen, grenzen sich von denen ab, die nur hamstern oder sinnlos Dinge anhäufen. Vielen, mit denen ich spreche, ist es wichtig, dass es sich um eine kontinuierliche Auseinandersetzung handelt, dass man Vorräte ständig erweitert oder optimiert, Listen führt und Konserven an der Verfallsgrenze wieder in den Alltag integriert und verbraucht. Und dass man sich überlegt, welche Fähigkeiten man sich noch aneignen sollte: Erste Hilfe, Selbstverteidigung, Feuermachen. Das ist eine echte Freizeitbeschäftigung.
Beide Interviews haben die Medien hinter einer Bezahlschranke versteckt. Ich frage mich: Sollte man sein Wissen mit Akteuren teilen, die es nicht der Allgemeinheit zur Verfügung stellen? Wer übrigens einen Bibliotheksausweis hat, kann die Artikel über genios.de lesen.
Ein weiteres Interview mit Hansjörg Dilger gibt es u.a. in der Zeit, wo er vor Klischees über "die Chinesen" oder "die Asiaten" warnt. Auf dem Blog medizinethnologie.net ist er mit seinen Mitstreitern auch aktiv. Dort sind bereits mehrere Corona Beiträge erschienen. Zum Hören gibt es ein Interview mit ihm im Deutschlandfunk.
UPDATE
Noch ein Ethnologe studiert Prepper: SRF interviewt den Ethnologen Bradley Garrett
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