Wozu Arbeit, Stress und Hierarchien? Vergessener Klassiker wieder erhältlich
Im Blatt Freitag stellt Thomas Wagner einen Klassiker der Ethnologie umd Sozialanthropologie vor, der jetzt zum ersten Mal seit 1976 in einer Neuauflage wieder verfügbar ist: Staatsfeinde von Pierre Clastres.
Einer der wichtigsten Aufgaben unseres Faches ist es zu zeigen, dass die Welt oft anders funktioniert als wir meinen, dass Vieles, das von der Mehrheit als normal erarchtet wird, gar nicht normal ist, wenn wir über unseren beschränkten Tellerrand hinausblicken. Die Vielfalt menschlichen Lebens ist nämlich grenzenlos.
Pierre Clastres, schreibt Wagner, hat einen "wichtigen frühen Beitrag zur heute erst richtig in Fahrt gekommenen Debatte um die Dekolonisierung des politischen Denkens" geleistet. Er forderte nämlich in seinem 1974 veröffentlichten Hauptwerk La Société contre l’État (Die Gesellschaft gegen den Staat), so Wagner, nichts weniger als eine „kopernikanische Revolution“: Statt „die primitiven Kulturen um die abendländische Zivilisation“ kreisen zu lassen, forderte er, diese aus sich selbst heraus zu verstehen.
Das ist natürlich eine klassisch ethnologische Position, doch auch in seiner Disziplin sah Clastres einen Ethnozentrismus. Er kritisierte vor allem Theorien, denen zufolge der Staat die krönende Schöpfung jeder Gesellschaft ist. Gesellschaften ohne Staat sind, so Clastres, nicht unterentwickelt oder "primitiv".
Seine Thesen basieren u.a. auf seine eigenen Feldforschungen bei den Guayaki und Guarani in Paraguay und Brasilien.
Zwang und Unterwerfung bilden Clastres zufolge keineswegs „überall und immer das Wesen der politischen Macht “. Das politisches Handeln vieler Bevölkerungsgruppen in Nord- und Südamerika ziele darauf ab, die Konzentration von Macht in einer Hand so effektiv zu blockieren, dass so etwas wie ein Staat erst gar nicht entstehen konnte.
Die Bedeutung der "Häuptlinge" hätten viele Europäer ihm zufolge überschätzt. Wagner schreibt:
Selbst jene herausgehobenen Personen, von denen die Europäer dachten, sie verfügten über so etwas wie Kommandogewalt, die sogenannten Häuptlinge, waren nicht in der Lage, ihre vermeintlich Untergebenen zu irgendetwas zu zwingen. (...) „Fast immer wendet sich der Anführer täglich bei Morgengrauen oder in der Abenddämmerung an die Gruppe. In seiner Hängematte liegend oder neben seinem Feuer sitzend, spricht er laut die erwartete Rede. Und gewiss muss seine Stimme kräftig sein, um sich vernehmbar zu machen. Denn es herrscht keinerlei Andacht, wenn der Häuptling spricht, keine Stille, jeder fährt in aller Ruhe fort, seinen Beschäftigungen nachzugehen, als ob nichts geschähe.“
Dieses Fehlen einer zentralen Macht hat auch Einfluss auf das Bild von Arbeit. Nicht alle Menschen leben in erster Linie, um zu arbeiten, wenn sie nicht dazu gezwungen werden.
Die ersten europäischen Beobachter stellten unter großer Missbilligung fest, „dass gesunde Burschen sich lieber wie Weiber anmalten und mit Federn schmückten, als in ihren Gärten zu schwitzen. Leute also, die entschieden nicht wussten, dass man sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen muss.“
(...)
Anders als vielfach angenommen, seien sie nicht etwa nicht dazu in der Lage gewesen, einen ökonomischen Überschuss zu erzielen, sondern legten überhaupt keinen Wert darauf, mehr zu produzieren, als sie benötigten.
Thomas Wagner merkt jedoch an, dass Clastres’ Überlegungen zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern in staatslosen Gesellschaften nicht überzeugen können.
>> zum Text auf freitag.de: Heimlicher Klassiker
Ansonsten wird Clastres oft vorgeworfen, dass er zu sehr romantisiere, staatenlose Gesellschaften darstelle als friedlich und konfliktfrei, die Gegensätze zwischen den staatslosen Gesellschaften und der sogenannten westlichen Welt übertreibe, siehe unter anderem weitere Besprechungen auf goodreads.com sowie von Marc Purcell von der University of Washington und Stephen Machan auf Thoughts Explained.
Das Buch kann man in seiner älteren deutschen Ausgabe vom Mois-Blog herunterladen. Die englische Ausgabe gibt es bei archive.org. Die Neu-Ausgabe kann man bei der Konstanz University Press bestellen.
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