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Wozu Arbeit, Stress und Hierarchien? Vergessener Klassiker wieder erhältlich

[Im Blatt Freitag](https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/heimlicher-klassiker) stellt Thomas Wagner einen Klassiker der Ethnologie umd Sozialanthropologie vor, der jetzt zum ersten Mal seit 1976 in einer Neuauflage wieder verfügbar ist: [Staatsfeinde von Pierre Clastres](https://www.k-up.de/9783835391215-staatsfeinde.html).

Einer der wichtigsten Aufgaben unseres Faches ist es zu zeigen, dass die Welt oft anders funktioniert als wir meinen, dass Vieles, das von der Mehrheit als normal erarchtet wird, gar nicht normal ist, wenn wir über unseren beschränkten Tellerrand hinausblicken. Die Vielfalt menschlichen Lebens ist nämlich grenzenlos.

[Pierre Clastres](https://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Clastres), schreibt Wagner, hat einen “wichtigen frühen Beitrag zur heute erst richtig in Fahrt gekommenen Debatte um die [Dekolonisierung des politischen Denkens](https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/postkolonialismus-und-globalgeschichte/240817/intellektuelle-dekolonisation)” geleistet. Er forderte nämlich in seinem 1974 veröffentlichten Hauptwerk La Société contre l’État (Die Gesellschaft gegen den Staat), so Wagner, nichts weniger als eine „kopernikanische Revolution“: Statt „die primitiven Kulturen um die abendländische Zivilisation“ kreisen zu lassen, forderte er, diese aus sich selbst heraus zu verstehen.

Das ist natürlich eine klassisch ethnologische Position, doch auch in seiner Disziplin sah Clastres einen Ethnozentrismus. Er kritisierte vor allem Theorien, denen zufolge der Staat die krönende Schöpfung jeder Gesellschaft ist. Gesellschaften ohne Staat sind, so Clastres, nicht unterentwickelt oder “primitiv”.

Seine Thesen basieren u.a. auf seine eigenen Feldforschungen bei den Guayaki und Guarani in Paraguay und Brasilien.

Zwang und Unterwerfung bilden Clastres zufolge keineswegs „überall und immer das Wesen der politischen Macht “. Das politisches Handeln vieler Bevölkerungsgruppen in Nord- und Südamerika ziele darauf ab, die Konzentration von Macht in einer Hand so effektiv zu blockieren, dass so etwas wie ein Staat erst gar nicht entstehen konnte.

Die Bedeutung der “Häuptlinge” hätten viele Europäer ihm zufolge überschätzt. Wagner schreibt:

> Selbst jene herausgehobenen Personen, von denen die Europäer dachten, sie verfügten über so etwas wie Kommandogewalt, die sogenannten Häuptlinge, waren nicht in der Lage, ihre vermeintlich Untergebenen zu irgendetwas zu zwingen. (…) „Fast immer wendet sich der Anführer täglich bei Morgengrauen oder in der Abenddämmerung an die Gruppe. In seiner Hängematte liegend oder neben seinem Feuer sitzend, spricht er laut die erwartete Rede. Und gewiss muss seine Stimme kräftig sein, um sich vernehmbar zu machen. Denn es herrscht keinerlei Andacht, wenn der Häuptling spricht, keine Stille, jeder fährt in aller Ruhe fort, seinen Beschäftigungen nachzugehen, als ob nichts geschähe.“

Dieses Fehlen einer zentralen Macht hat auch Einfluss auf das Bild von Arbeit. Nicht alle Menschen leben in erster Linie, um zu arbeiten, wenn sie nicht dazu gezwungen werden.

>Die ersten europäischen Beobachter stellten unter großer Missbilligung fest, „dass gesunde Burschen sich lieber wie Weiber anmalten und mit Federn schmückten, als in ihren Gärten zu schwitzen. Leute also, die entschieden nicht wussten, dass man sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen muss.“
>(…)
> Anders als vielfach angenommen, seien sie nicht etwa nicht dazu in der Lage gewesen, einen ökonomischen Überschuss zu erzielen, sondern legten überhaupt keinen Wert darauf, mehr zu produzieren, als sie benötigten.

Thomas Wagner merkt jedoch an, dass Clastres’ Überlegungen zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern in staatslosen Gesellschaften nicht überzeugen können.

[>> zum Text auf freitag.de: Heimlicher Klassiker](https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/heimlicher-klassiker)

Ansonsten wird Clastres oft vorgeworfen, dass er zu sehr romantisiere, staatenlose Gesellschaften darstelle als friedlich und konfliktfrei, die Gegensätze zwischen den staatslosen Gesellschaften und der sogenannten westlichen Welt übertreibe, siehe unter anderem weitere Besprechungen auf [goodreads.com](https://www.goodreads.com/book/show/990828.Society_Against_the_State) sowie von [Marc Purcell von der University of Washington](http://faculty.washington.edu/mpurcell/clastres.pdf) und [Stephen Machan auf Thoughts Explained](http://themoralskeptic.blogspot.com/2017/11/book-summary-society-against-state-by.html).

Das Buch kann man in seiner älteren deutschen Ausgabe vom [Mois-Blog](https://www.euse.de/wp/blog/2008/09/pierre-clastres-staatsfeinde/) herunterladen. Die englische Ausgabe gibt es bei [archive.org](https://archive.org/details/ClastresSocietyAgainstTheStateEssaysInPoliticalAnthropology/mode/2up). Die Neu-Ausgabe kann man bei der [Konstanz University Press](https://www.k-up.de/9783835391215-staatsfeinde.html) bestellen.

**SIEHE AUCH:**

[“Leben wie in der Steinzeit” – So verbreiten Ethnologen Vorurteile](https://www.antropologi.info/blog/ethnologie/2005/leben_wie_in_der_steinzeit_so_verbreiten)

[“Leben doch nicht im Einklang mit der Natur”](https://www.antropologi.info/blog/ethnologie/2011/edler-wilde)

[Anthropologists condemn the use of terms of “stone age” and “primitive”](https://www.antropologi.info/blog/anthropology/2007/anthropologists_condemn_the_use_of_terms)

Im Blatt Freitag stellt Thomas Wagner einen Klassiker der Ethnologie umd Sozialanthropologie vor, der jetzt zum ersten Mal seit 1976 in einer Neuauflage wieder verfügbar ist: Staatsfeinde von Pierre Clastres.

Einer der wichtigsten Aufgaben unseres Faches ist es zu zeigen,…

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Wenn Kinder als Hexen verfolgt werden: Was meint die Ethnologie?

Immer wieder macht das Thema “Hexenkinder” Schlagzeilen in den Medien. Doch was haben Ethnologen und Ethnologinnen dazu zu sagen? Bisher recht wenig. Ethnologe Felix Riedel hat sich eines der wenigen Bücher zu diesem Thema angeschaut und stellt es hier auf antropologi.info vor: The Devil’s Children. From Spirit Possession to Witchcraft: New Allegations that affect Children von Jean La Fontaine.


Rezension

LaFontaine (Hg.) 2009: The Devil’s Children. From Spirit Possession to Witchcraft: New Allegations that affect Children. Farnham, Surrey: Ashgate Publishing Limited.

Von Felix Riedel, MA Ethnologie

Die Viktimisierung von Kindern durch Hexereianklagen hat in den letzten Jahren starkes Interesse der Öffentlichkeit erfahren. Ein Auslöser dafür war die britische Dokumentation des Senders Channel 4 mit dem Titel Saving Africa’s witch-children. Das Porträt eines nigerianischen Asyls für Kinder, die von ihren Eltern, Stiefeltern, Verwandten, Priestern oder Nachbarn der Hexerei beschuldigt und misshandelt wurden, stieß eine gesellschaftliche Debatte in Nigeria an. Die vergleichbare Situation in der Demokratischen Republik Kongo wurde in ähnlichen Dokumentarfilmen belegt.

Dispatches: Return to Africa's Witch Children (1 of 5)

In Diskrepanz zum journalistischen Interesse steht das Schweigen der Ethnologie. Lediglich Robert Brain (1970), Peter Geschiere (1980) und Filip DeBoeck (2003; 2004; 2005) haben bislang fundierte Daten gesammelt und diskutiert, zwei neuere Studien aus Ghana erschienen nach 2009. Eine Reihe von Arbeiten aus dem Umfeld humanitärer Organisationen rezitiert im Wesentlichen die journalistischen Quellen.

Der von Jean LaFontaine herausgelegte Sammelband betritt daher ein weitgehend brach liegendes Feld.

Die Publikation richtet sich in der Konsequenz nicht primär an ein wissenschaftliches Fachpublikum, sondern an soziale Arbeit, therapeutisches Personal, Polizisten und Kirchen. Zwei Drittel der Texte im Sammelband leisten ausschließlich Vorarbeit zu einem Verständnis von Geistbesessenheit in unterschiedlichen kulturellen Bezügen.

Eine hervorragende Zusammenfassung der psychiatrischen Problematik liefert Roland Littlewood. Seine Gegenüberstellung von Geistbesessenheit und suizidaler Überdosierung von Medikamenten eröffnet einen praktikablen Weg, das Verhältnis von agency und Symptom bei weiblichen Besessenheitskulten in aller gebotenen Unschärfe neu zu bestimmen:

„The distinction may be difficult to draw. As with overdoses, when do ‚symptoms’ become ‚strategies’?“ (33)

Littlewood fordert eine erhöhte Sensibilität der Therapeuten für kulturelle Belange sowie die partielle Integration von kulturspezifischen Laien-Therapeuten ein. Die psychiatrische Therapie will er durch diese Offenheit im Interesse des Patienten stärken und beibehalten.

buch cover

Sherrill Mulhern evaluiert in einem weiteren exzellenten Text für den europäischen Kontext alternierende Schwankungen in den Körper-Geist-Konzeptionen.

Ausgangspunkt ist der Wandel von der hochmittelalterlichen Lehrmeinung über Hexereigeständnisse und Somnambulismus zu den fundamental differenten Anschauungen des 14ten Jahrhunderts. (38ff) Erst diese interpretierten halluzinierte Geständnisse als empirisches Zeugnis einer nächtlichen Reise und Teufelsbuhlschaft.

Diesen Wandel parallelisiert sie mit dem aktuellen charismatisch-christlichen Postulat, Geständnisse und Visionen seien empirische Manifestationen göttlicher Wahrheiten und ermöglichten spirituelle Ätiologien. Während die Exzesse der katholischen Kirche letztlich die Entwicklung von alternativen psychologischen Konzepten provoziert hätten, würde die charismatische Bewegung die Therapie aus der säkularen Psychotherapie in die Dämonologie der deliverance zurück überführen. (46)

In einer bisweilen zu glatten, rasanten Erzählung problematisiert sie die Wiederkehr des Geständnisproblems in der Psychotherapie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Unter dem Druck feministischer Positionen sei die analytische Annahme einer subjektiven, psychologischen Wahrheit für Inzestfälle in den Verdacht der Vertuschung von realen Verbrechen geraten.

Die bis heute andauernde Strömung fordert gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Nachweisbarkeit und in Verleugnung der Möglichkeit der Konfabulation eine prüfungslose Anerkennung jeglicher Opfererzählungen. Als Resultat der Diskursschwankungen seien erstaunlich weit verbreitete Phantasien über satanistische Rituale bis hin zum Kannibalismus als glaubhafte kindliche Erinnerungen von Patienten und Therapeuten verteidigt worden. (54) Mulherns historische Analyse verweist in einer neuen Dringlichkeit auf die Komplexität und Reichweite des Problems der Nichtidentität von Geist und Körper.

Die Integration von emischen Perspektiven versucht der Band im dritten Teil. Christina Harringtons Beitrag idealisiert in einem kurzen Beitrag ihre Wicca-Initiation. Mercy Magbagbeolas Beschreibung ihrer christlichen Hexereivorstellungen sind als illustrative ethnographische Quelle wertvoll, werden in dieser Form aber unnötig aufgewertet.

Erst das letzte Drittel des Buches widmet sich explizit Kindern als Opfer von Hexereianklagen.

LaFontaine fasst die wenigen bestehenden ethnographischen Texte zusammen und leistet so die Vorarbeit zum einzigen ethnographischen Beitrag von Filip DeBoeck. Dieser liefert eine geringfügig aktualisierte Durchführung seiner älteren Texte, in denen er konzise die Verhältnisse in der DRC beschreibt und diskutiert.

Leider besteht er immer noch auf einer euphemistischen Definition der Heilung: Der mitunter wochenlange Exorzismus von Kindern in den Kirchen biete als therapeutic ‚healing’ space eine „alternative Lösung des Problems“ an. (131)

DeBoeck entgleitet hier die Sensibilität für die komplexere infantile Psychodynamik, schlüssig wird der therapeutische Aspekt nicht. Das Trauma des Exorzismus wird nicht weiter erörtert, die Reintegration ins verfolgende Kollektiv wird mit Heilung gleichgesetzt. Auch wiederholt er die populäre Hypothese, Hexereianklagen könnten als a posteriori birth control gelten: Kinder würden primär aus ökonomischen Gründen verstoßen.

Materialistische Ansätze dieser Art erklären nicht, warum die okkulte Rechtfertigung der ökonomischen vorgezogen wird.

Stichhaltiger ist seine Beobachtung über Neuformierungen der Kernfamilie gegen die erweiterte Verwandtschaft mit ihren Ansprüchen. Aber auch hier fehlt die Vermittlung durch die individuelle Psychodynamik und die Ideologieform, in der diese Abgrenzung als okkultes Ressentiment gewählt und ausformuliert wird.

In einer für das Forschungsfeld üblichen Umkehr werden die Verfolger von Kindern zu Opfern einer spirituellen Unsicherheit, einer Krise der Verwandtschaft. Die Krise der kindlichen Opfer von Hexereianklagen tritt dann nur noch als sekundärer Effekt einer anderen Krise in Erscheinung.

Das letzte Kapitel wird im Wesentlichen von Eleanor Stobart gerettet durch eine empirische Studie über Fälle von Kindesmisshandlung mit assoziierten Hexereianklagen in Großbritannien.

Die breite Zielgruppe des Bandes resultiert in einem Relativismus, der Kritik unterbindet. So behauptet Eileen Barker in der Einleitung:

„The social sciences have to recognise their limitations, however. They have no expertise, technologies or skills that allow them to judge theological or ethical claims.” (3)

Dieser Widerruf wissenschaftlicher Erkenntnis richtet sich gegen philosophische Betätigung als Vermittlung zwischen dem aktuellen Stand der Aufklärung und dem dahinter zurückfallenden gesellschaftlichen Bewusstein. Der den Sozialwissenschaften aufoktroyierte „wissenschaftliche Agnostizismus“ (3) tendiert dazu, analytische Kritik und interdisziplinäres Denken stillzulegen.

So richtig die Kritik am „nothing but“ der psychologistischen oder materialistischen Ansätze ist, so reduktionistisch ist die Aufgabe des Versuches der dialektischen Darstellung zugunsten einer urteilsfreien Beschreibung, die weder naturwissenschaftlichen noch philosophischen Ansprüchen gerecht wird.

Der Eindruck der Beliebigkeit wird komplett, wenn Barker wenig später das Urteil über spezifische Vorurteile doch wieder einführt: Als berechtigten Verweis auf „ignorance“ und „misinformation“ der westlichen Gesellschaften gegenüber den Vorstellungen der Minoritäten (4).

Die dialektische Spannung zwischen Materialismus und Psychologismus, Gesellschaft und Individuum kann der Band nicht aushalten. Er beinhaltet einige Aufsätze von hervorragender Qualität und leistet auch Pionierarbeit für die Praxis mit viktimisierten Kindern. So erfreulich dieser seltene praxisbezogene Ansatz ist, die Desiderate des Feldes „Kinder und Hexenjagden“ können die Beiträge leider nur partiell schließen.

Felix Riedel, MA Ethnologie
Marburg, Deutschland
Kontakt: Felix.Riedel.Uni (AT) googlemail.com


MEHR INFORMATIONEN:

Information vom Verlag

Einführungskapitel des Buches (pdf)

Felix Riedel: Hexenjagden in Nordghana (Teil seines Projektes “Hilfe für Hexenjagdflüchtlinge Ein Verein zur Unterstützung der Asyle für Hexenjagdflüchtlinge in Ghana”)

Jean La Fontaine: Witchcraft belief is a curse on Africa (Guardian 1.3.12)

Eleanor Stobart: Race bias claim over witchcraft “The government’s response to child abuse linked to witchcraft would have been different if it involved mainly white children” (BBC, 4.8.2006)

Die Kinderhexen von Kinshasa. Zum Wandel von Hexereivorstellungen in der Demokratischen Republik Kongo Magisterarbeit in Ethnologie von Katharina Puvogel an der Uni Münster (pdf)

SIEHE AUCH:

Book review: Witchcraft in South Africa

Kontroverser Ethnologe David Signer: Die Stagnation schwarzafrikanischer Staaten hat einen Grund: Hexerei

World Cup Witchcraft: European Teams Turn to Magic for Aid

buch cover

Als "Hexenkind" verfolgt und misshandelt (Kleine Zeitung, 16.1.2012)
Die Hexenkinder von Nigeria: Priester und Scharlatane bereiten Jungen und Mädchen die Hölle auf Erden (Die Welt, 11.9.2010)

Immer wieder macht das Thema "Hexenkinder" Schlagzeilen in den Medien. Doch was haben Ethnologen und Ethnologinnen…

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Für eine andere Ökonomie: Deutschsprachige Medien entdecken David Graeber

Ein Themenbereich, in dem Ethnologen / Sozialanthropologen in letzter Zeit besonders brilliert haben ist Ökonomie – oder genauer gesagt, die “Finanzkrise”.

Einer der innerhalb des Fachs international bekanntesten (und vielleicht auch interessantesten) Ethnologen ist nun dabei, auch im deutschsprachigem Raum ausserhalb der Universitätsmauern ein Begriff zu werden: David Graeber.

Wie ethno::log letzte Woche meldete, ist in der FAZ ein längerer Aufsatz über Graebers neuestes Buch “Debt: The first 5000 years” erschienen.

Ein paar Tage später hat der Humanistische Pressedienst eine ältere Publikation Graebers hervorgekramt, und zwar Fragmente einer anarchistischen Anthropologie, die inzwischen auch auf deutsch erhältlich ist (das Original gibts auch gratis als pdf). Graeber wurde auch im ZEIT-Artikel Occupy-Bewegung: Wut, Liebe, Paranoia kurz erwähnt.

Und hier ein Interview mit Graeber auf 3sat:

Kulturzeit - 3sat - David Graeber - Schulden

Graeber ist in internationalen Mainstream-Medien durch die Occupy-Bewegung ein gefragter Interviewpartner geworden, wie Greg Downey in seinem Beitrag David Graeber: anthropologist, anarchist, financial analyst* auf dem Blog Neuroanthropology zusammenfasst.

SIEHE AUCH:

How anthropologists should react to the financial crisis

– Use Anthropology to Build A Human Economy

Ethnologen in die Volkswirtschaft!

“Similar to the Third World debt crisis” – David Graeber on ‘Occupy Wall Street’

David Graeber: There never was a West! Democracy as Interstitial Cosmopolitanism

Ein Themenbereich, in dem Ethnologen / Sozialanthropologen in letzter Zeit besonders brilliert haben ist Ökonomie - oder genauer gesagt, die “Finanzkrise”.

Einer der innerhalb des Fachs international bekanntesten (und vielleicht auch interessantesten) Ethnologen ist nun dabei, auch im deutschsprachigem Raum…

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Wissenschaft als “Prachtbildband”: Buch zur Wittenberg-Studie erschienen

Fast drei Jahre lang haben 28 Ethnologen und Soziologen das Leben der Stadt Wittenberge im Niedergang teilnehmend beobachtet. Vor einem guten Jahr wurden die Forschungsergebnisse gross in einer Sonderausgabe der ZEIT präsentiert.

Nun liegt das Buch zur Studie vor. Die Märkische Allgemeine stellt es in zwei Beiträgen vor. ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft heisst das von Heinz Bude herausgegebene Werk.

Die Wittenberg-Forschenden sind in vieler Weise neue Wege gegangen. Sie banden Künstler in den Forschungsprozess ein. Sie vermittelten Forschung via Theaterstücke und ZEIT-Sonderbeilage. Gar nicht so typisch akademisch also.

Das Buch scheint auch alles andere als typisch zu sein. Forschung wird via Essays und Bildreportagen einem breiten Publikum vermittelt.

Als “hybriden Klotz” beschreibt Jan Sternberg in der Märkischen Allgemeinen das 360 Seiten starke Buch, als “Prachtband über Niedergang und Weiterwursteln in Wittenberge” mit “aufwendig gestalteter Bild-Text-Kombination”.

Sein Kollege Andreas König ist nicht besonders glücklich über diese Darstellungsform. Der ungewöhnliche Mix aus Reportagen, wissenschaftlichen Beiträgen, Ausschnitte aus Theaterstücke und längeren Foto-Strecken, schreibt er, mache sowohl den Reiz als auch die Schwäche des Buches aus.

SIEHE AUCH:

Forschungsthema: Wie überleben in Wittenberge?

Das Potenzial der Wirtschaftskrise – Riesen-Forschungsprojekt in Wittenberge zu Ende

Webseite des Forschungsprojektes

Fast drei Jahre lang haben 28 Ethnologen und Soziologen das Leben der Stadt Wittenberge im Niedergang teilnehmend beobachtet. Vor einem guten Jahr wurden die Forschungsergebnisse gross in einer Sonderausgabe der ZEIT präsentiert.

Nun liegt das Buch zur Studie vor. Die Märkische…

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“Genitalverstümmelung”: Wie Ethnologie Leiden verhindern kann

Die Kontroversen um weibliche “Genitalverstümmelung” eignen sich hervorragend, um ethnologische Einsichten an die breite Bevölkerung zu vermitteln, meint Janne Mende.

Über ihr soeben erschienenes Buch Begründungsmuster weiblicher Genitalverstümmelung. Zur Vermittlung von Kulturrelativismus und Universalismus habe ich mich mit ihr kurz via email unterhalten.

Was hoffen Sie, wird den Lesern bei der Lektüre des Buches durch den Kopf gehen?

– Ich diskutiere in meinem Buch die für Ethnologen und Ethnologinnen zentrale Frage nach dem Umgang mit kulturellen Vorstellungen, die einem Verständnis von Menschenrechten entgegenstehen, das das Glück der Einzelnen hervorhebt. Mir geht es um einen Weg jenseits von einem bedingungslosen Kulturrelativismus, der alles, was als ‘anders’ erscheint, akzeptiert, und jenseits von einem unreflektierten Universalismus, der ohne Kontextbezug und unvermittelt Menschenrechtsideen postuliert.

– Statt in eine dichotome Fragestellung zu verfallen, die nur eine der beiden Seiten als Ausweg kennt, sollen sie als je schon vermitteltes Verhältnis erkannt werden. Dann ist es möglich, repressive von emanzipatorischen Aspekten auf beiden Seiten zu unterscheiden und letztere zu stärken.

Wie vermitteln Sie Einsichten unseres Faches am Beispiel weiblicher Genitalverstümmelung (oder Genitalverstümmelung wie es andere benennen) ?

– Der Umgang mit der Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung / Genitalbeschneidung ist ein höchst kontroverses Thema. Das zeigt sich bereits bei der Schwierigkeit der Benennung. Gerade an den Diskussionen um diese Praxis lässt sich das vermittelte Verhältnis von Kulturrelativismus und Universalismus sehr eindringlich herausarbeiten: Weder haben Abschaffungsbemühungen Erfolg, die ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten vorgehen, noch kann das sehr reelle und dokumentierte Leiden von Mädchen und Frauen ausgeblendet werden.

– Die Notwendigkeit von Kontextualisierungen verdeutlicht sich ebenso wie die Notwendigkeit von einem Maßstab für Kritik, der betroffenen Frauen die Möglichkeit in die Hand gibt, sich gegen repressive Strukturen einzusetzen.

Wie kommen Sie zum Schluss, weibliche Genitalbeschneidung / Genitalverstümmelung müsse abgelehnt werden?

– Ich arbeite anhand zahlreicher Beispiele sieben verschiedene Begründungsmuster für die Praxis heraus. Obwohl sie sich in politischer, sozialer, ökonomischer und psychosozialer Hinsicht stark voneinander unterscheiden können, ist ihnen das Merkmal gemeinsam, dass sie der Herstellung und Anerkennung (kollektiver) Identität dienen. Zu dieser gibt es kaum gangbare Alternativen. Wollen Frauen und Mädchen innerhalb der gegebenen Gesellschaft handlungsfähig bleiben, müssen sie sich dem Eingriff unterziehen.

– Wenn die Praxis nun als Ergebnis freier, autonomer Wahl bezeichnet wird, so wird diese grundlegende Alternativlosigkeit völlig ignoriert. Ein relativierendes Anerkennen der Praxis greift zu kurz und ignoriert das Leiden, das mit dem Eingriff einhergeht.

– Aber auch der ausschließliche Fokus auf eine Abschaffung der Praxis ist unzureichend: Einerseits lässt sich die Praxis kaum aus dem Geflecht von Sinnzusammenhängen herauslösen. Andererseits würden weitergehende repressive soziale Mechanismen und (Geschlechter-) Ungleichheiten bestehen bleiben.

– Da keine Kultur oder Gesellschaft homogen oder statisch ist, stellt sich die Frage, wer und mit welchem Interesse einen Brauch als unentbehrlich bezeichnet. Handlungsalternativen eröffnen sich erst dann, wenn Interessen, Verhaltensweisen und der Zugang zu Ressourcen nicht mehr eng an das Geschlecht, an die Religion oder an das Aussehen der Geschlechtsorgane geknüpft werden. So lang eine wirkliche Entscheidungsfreiheit ohne sozialen, politischen, religiösen oder ökonomischen Druck nicht existiert, darf das Leiden von Mädchen und Frauen an den körperlichen, sexuellen und psychosozialen Folgen der Praxis nicht ignoriert oder den Interessen des Kollektivs untergeordnet werden.

Wie sollen sich Behörden dem Problem gegenüber konkret verhalten? 

– Patentrezepte eignen sich angesichts der komplexen Problematik nur bedingt. Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass eine rechtliche Grundlage hilfreich ist, die nicht nur das Engagement gegen Exzision unterstützt, sondern die Frauen und Mädchen in allen Bereichen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, zu Eigentum, zum Arbeitsmarkt usw. ermöglicht, sowie eine Zivilgesetzgebung, die beispielsweise Frauen im Scheidungsfall nicht mittellos lässt.

– Es haben sich vor allem diejenigen Herangehensweisen als erfolgreich erwiesen, die mit den betreffenden Frauen und Männern vor Ort gemeinsam Handlungsstrategien entwickeln. Mit einer kultursensiblen Analyse können Hintergründe und Begründungsmuster der Praxis offengelegt werden. So können vor dem universellen Hintergrund der Verringerung von Leiden angemessene Abschaffungsbemühungen entwickelt werden.

Ethnologin Fuambai Ahmadu kritisiert westliche Kampagnen gegen Genitalbeschneidung. Wie interessant finden Sie Ahmadus Argumente?  

– Mit Ahmadu setze ich mich im Buch ausführlich auseinander. Sie bezeichnet ihre eigene Exzision, über deren genauen Ablauf sie vor dem Eingriff informiert wurde, als Möglichkeit, sich zwischen der westlichen Welt und der Welt in Sierra Leone frei bewegen zu können. Sie reflektiert jedoch nicht, dass den Mädchen und Frauen in Sierra Leone genau diese Möglichkeit nicht offen steht. Nicht nur wird dort durch das strikte Schweigegebot ein fundiertes Wissen über die Praxis im Vorfeld verhindert. Zudem legt die Exzision die Frauen auf einen genau abgegrenzten Handlungsspielraum fest. Abweichungen riskieren die Strafe des Verstoßenwerdens.

– Ahmadu untergräbt somit ihren eigenen Anspruch auf eine kontextsensible Vorgehensweise, wenn sie strukturelle Bedeutungs- und Herrschaftsebenen ausblendet. Die Initiation markiert den Eintritt in den Geheimbund der Frauen, Bundo-, Bundu- oder Sande-Gesellschaft genannt. Wenn ein Mädchen sich der Praxis nicht unterzieht und damit nicht in den Bund aufgenommen wird, ist sie in der Gesellschaft praktisch nicht handlungsfähig. Ihr wird der Zugang zu Besitz abgesprochen, ebenso wie ihre Heiratsfähigkeit oder ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären. Die Exzision soll sie zu einer Frau machen, und zwar (wie von Ahmadu ausdrücklich betont wird) zu einer heterosexuellen Frau in einer geschlechterdualistisch organisierten Gesellschaft.

– Sie schreiben in der E-Mail zu mir, Sie möchten ethnologische Einsichten einem breiteren Publikum zugänglich machen. Doch schon auf den ersten Seiten des Buches schlagen Sie zu Worten wie “hypostasieren” und “Präsuppositionen” etc. Ein Widerspruch?

– Fachbegriffe und Fremdwörter schließen ein breiteres Verstehen nicht notwendigerweise aus. Das Buch ist in einer nachvollziehbaren Sprache verfasst, die ihre Leser und Leserinnen nicht unterschätzt. Der sozialwissenschaftliche Anspruch wird so weder untergraben noch esoterisch auf ein kleines, ausgewähltes Publikum beschränkt.

Ihr Buch in einem Satz?

– Es geht nicht um das Recht eines Ansatzes, sei es Kulturrelativismus oder Universalismus, sondern es geht um die kontextbezogene, nicht-repressive, aber dennoch unhintergehbare Verminderung von Leiden.

Letzte Worte an die Lesenden an den Bildschirmen?

– Um ein Vermittlungsverhältnis zwischen zwei scheinbar dichotom sich gegenüberstehenden Momenten herauszuarbeiten, bedarf es der Arbeit am Begriff, einer steten Reflexion, die sich nicht mit dem einmal Erreichten begnügt, und der Kraft, „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ (Adorno)

>> mehr Information beim Transkript-Verlag, wo man auch die Einleitung (pdf) lesen kann

SIEHE AUCH:

Journal Ethnologie 3/2007 über weibliche Genitalbeschneidung in Afrika

Yes to female circumcision? Anthropologist Fuambai Ahmadu attacks Western feminists

Circumcision: "Harmful practice claim has been exaggerated" – AAA meeting part IV

Maxikulti: Ethnologen, raus aus der Kulturfalle!

Do anthropologists have anything relevant to say about human rights?

Ethnologe Christoph Antweiler: Wie universell sind die Menschenrechte?

Humanismus + Kosmopolitismus + Anthropologie = humane Weltkultur?

Why anthropology fails to arouse interest among the public – Engaging Anthropology (2)

Die Kontroversen um weibliche “Genitalverstümmelung” eignen sich hervorragend, um ethnologische Einsichten an die breite Bevölkerung zu vermitteln, meint Janne Mende.

Über ihr soeben erschienenes Buch Begründungsmuster weiblicher Genitalverstümmelung. Zur Vermittlung von Kulturrelativismus und Universalismus habe ich mich mit ihr kurz…

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