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Was ist Natur? Wer darf über sie bestimmen? Kulturanthropologen erforschen die Rückkehr des Wolfes

Wolf
Spätestens seit 2012 in der Calandaregion der erste Wolfsnachwuchs auf Schweizer Boden nachgewiesen wurde, wird von der “Rückkehr des Wolfes” gesprochen. Foto: ben snaps, flickr

An der Uni Zürich gibt es ein interessantes Forschungsprojekt: Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien zur Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz. Die Rückkehr der Wölfe sorgt für heftige Diskussionen. In der Schweiz wird zu diesem Thema am kommenden Sonntag abgestimmt. Ein neues Jagdgesetz, das u.a. das Abschießen von Wölfen erleichtert, wird dann dem Stimmvolk vorgelegt. Bürgerliche und Rechte sind dafür, Linksgrüne und Umweltverbände dagegen. Naturverbundene PraktikerInnen aus Jagd, Landwirtschaft und Herdenschutz stehen in der Debatte allerdings quer.

Der Beobachter interviewt zwei Teilnehmende dieses Forschungsprojektes, den Kulturanthropologen Nikolaus Heinzer und die Kulturanthropologin Elisa Frank, die ihre Dissertation über die Schweizer Wolfsdebatte schreiben.

Sie erklären, dass trotz der polarisierten Debatte Kompromisse möglich sind.

Auf der einen Seite haben wir die Befürwörter einer Rückkehr des Wolfes. “Der politische Einsatz für den Wolf”, so Heinzer, ist “ein Engagement für die Natur, wie Bio-Produkte zu kaufen. Seine Rückkehr steht für eine Entwicklung als Ganzes, die man fördern will.” Auf der anderen Seite haben wir die Gegner. Der Wolf ist für sie eine oft existentielle Bedrohung, “Solange es in den Alpen keine Grossraubtiere mehr gab, konnten Bergbauern Teilzeit im Tal arbeiten und ihre Tiere sich selbst überlassen”, erklärt Frank. “Der Wolf bedroht diesen Lebensentwurf. Generell wird Bergwirtschaft mit ihm aufwändiger, schwieriger, teurer.”

Es geht also, so die Wissenschaftlerin weiter, um große, grundsätzliche Fragen. Lebens- und Wirtschaftsformen in den Bergen werden in Frage gestellt. Und: Was ist Natur? Wer darf über sie bestimmen?

Hier spielt auch das Verhältnis zum Staat eine Rolle. Heinzer macht einen interessanten Vergleich mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie:

Abstürze oder Blitzschläge sind für [die Schafhalter] akzeptierte Naturgefahren. Sie passieren. Der Wolf nicht. Er ist nur da, weil das andere so wollen. Es ist wie beim Coronavirus. Wer sagt, Pandemien gibt es nun mal, der akzeptiert Einschränkungen. Wer Viruswarnungen als politische Bevormundung empfindet, hingegen nicht.

Gibt es einen Ausweg aus der Polarisation? Ja, meint Elisa Frank. Einen gemeinsamen Nenner von Gegnern und Befürwortern gebe es nämlich:

(…) Dabei sind praktisch alle der Meinung, dass Menschen in den Alpen leben und wirtschaften können sollen. Niemand will menschenleere Berggebiete. Dieser kleinste gemeinsame Nenner sollte die Ausgangslage sein, um unseren Umgang mit dem Wolf zu diskutieren. Klar gäbe es weiterhin Streit um Detailfragen, aber weniger Grundsatzdebatten über Macht und Bevormundung.

>> zum Interview im Beobachter


In einem Aufsatz auf der Wissenschaftsplattform Defacto mit den Titel “Im Schatten des Wolfes” vertiefen die beiden Doktoranden einige Aspekte des Interviews.

Nicht ganz so leserfreundliche Einblicke in ihre Forschung gibt Elisa Franks Artikel “Multispecies Interferences: Taxidermy and the Return of Wolves” in der Zeitschrift Ethnologia Europaea.

Die beiden Forschenden sind auch vertreten in der erst kürzlich erschienenen Anthologie Managing the Return of the Wild. Human Encounters with Wolves in Europe.

Fast gleichzeitig ist noch ein Zeitungsartikel über einen Anthropologen erschienen, der sich für das Thema Wolf interessiert: «Der Wolf bringt immer Aufregung mit sich»: Frauenfelder und St.Galler Filmemacher nähern sich dem Raubtier in einem Kinoessay, meldet das St.Galler Tagblatt. Es dreht sich hier um Beat Oswald, der mit Samuel Weniger einen Film über dasselbe Thema dreht.

Wir lesen:

Was als klassische «Into the Wild»-Erzählung beginnt, ändert sich im Verlaufe des Filmes. Denn obwohl die im Tal lebenden Menschen die Anwesenheit des Wolfs bestätigen, bekommt der Städter diesen nicht zu Gesicht. In Gesprächen mit den Dorfbewohnern merkt er, dass die Geschichten, welche die Menschen über den Wolf erzählen, spannender sind als das Tier selbst.

Der Wolf stehe sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher und globaler Ebene für Veränderung. «Er wird zum Stellvertreter für tiefgreifende Auseinandersetzungen wie etwa die Frage, ob das wahre Leben in der Natur oder in der Zivilisation stattfindet, die Auslotung der Grenzen zwischen Natur- und Kulturraum sowie globalen Themen wie der Klimawandel.»

>> zum Interview im Tagblatt

Diese Forschungen sind Teil einer Richtung, die in den letzten zehn Jahren trendy geworden ist: multispecies anthropology (pdf) – ein Thema, worüber auch viel gebloggt wird.

UPDATE 28.9.2020

Historikerin Aline Vogt hat auf Geschichte der Gegenwart einen interessanten Beitrag über unser Verhältnis zum Wolf geschrieben:

Ein Blick in die Geschichte zeigt aber, dass das Recht des Menschen, Tiere über­haupt zu regu­lieren, nicht selbst­ver­ständ­lich ist. Für die Legi­ti­mie­rung des mensch­li­chen Eingriffs in die Natur spielen viel­mehr histo­risch entstan­dene Ideen von mensch­li­cher und männ­li­cher Über­le­gen­heit eine zentrale Rolle.

Das Jagdgesetz wurde übrigens abgeleht.

Wolf

Spätestens seit 2012 in der Calandaregion der erste Wolfsnachwuchs auf Schweizer Boden nachgewiesen wurde, wird von der "Rückkehr des Wolfes" gesprochen. Foto: ben snaps, flickr

An der Uni Zürich gibt es ein interessantes Forschungsprojekt: Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien zur…

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"Je diverser die Gegend ist, um so weniger hat sie mit Landflucht zu kämpfen"

Jeder will nach Berlin oder München, doch in Chemnitz stehen Wohnungen monatelang leer. In manchen ländlichen Regionen Deutschlands herrschen fast schon “chinesische Zustände”, wo wir fast nur Rentner oder Kinder antreffen. “Der mittlere Teil der Bevölkerung ist dort unterwegs oder abgewandert. Das bedeutet auch, dass der aktive Teil, der kritische und veränderungsbereite Teil der Gesellschaft weggeht. Das Land wird also konservativer und das beschleunigt wiederum die Abwanderung der Jüngeren, die Veränderung haben wollen”, sagt Ethnologe Wolfgang Kaschuba in einem Interview mit dem MDR.

Im Spiegel-Artikel Die Landflucht der jungen Deutschen vom letzten Jahr gibt es interessante Zahlen und Grafiken dazu.

Warum sind manche Regionen so viel attraktiver als andere? Liegt es an Arbeitsplätzen, schöner Natur oder kulturellen Angeboten? Bestimmt, aber nicht nur. Kaschuba bringt weiteren, vielleicht noch wichtigere Faktoren ins Spiel: Freiheit und Vielfalt; die Freiheit sich selbst sein zu dürfen, eine Vielfalt von möglichen Lebensstilen.

Daran hapert es besonders in vielen ländlichen und kleinstädtisch geprägten Gegenden. Hier ist der Konformitätsdruck groß, woran besonders Frauen zu leiden haben. “Landflucht ist weiblich” heißt deshalb die Überschrift des Textes. Es sind vor allem Frauen, die ländliche Räume verlassen, so der Forscher:

Die Kontrollfunktion der ländlichen Gesellschaft wird von jungen Frauen offenbar sehr viel stärker wahrgenommen als von jungen Männern. Wir wissen auch, dass traditionell eingestellte Eltern klassischerweise den Söhnen immer mehr Freiheiten geben als den Töchtern. Heute rächt sich das und gut ausgebildete junge Frauen nehmen sich dann ihre Freiheit. Wir haben eindeutig ländliche Regionen mit einem deutlichen Männerüberschuss. Das heißt auch: es gibt viel zu wenige Frauen für eine Partnerschaft, für Familie, für Ehe.

Wenn man sich die Migrationsströme innerhalb Deutschlands anschaut (siehe Spiegel), wird klar, dass es dabei jedoch nicht immer um Stadt gegen Land dreht, betont der Forscher. Es gibt auch kleine Regionen, die für junge Leute attraktiv sind. Hier ist ist ihm zufolge Diversität ein wichtiger Schlüssel für die Entwicklung der Gesellschaft: “Je diverser, also vielfältiger, eine Gesellschaft ist”, so Kaschuba, “umso eher sind unterschiedliche Lebensstile denkbar und umso mehr Bedürfnisse werden abgedeckt.” Und deswegen, kann ich anfügen, können auch Großstädte wie Chemnitz, die zwar jede Menge billigen Wohnraum und genug Arbeitsplätze anzubieten haben, jedoch kleinstädtisch-provinziell geprägt sind, unattraktiv sein.

>> zum Interview im MDR

Aber vielleicht verändert die Corona-Pandemie die Kriterien? Spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zweifeln mehr Menschen am Traum vom Stadtleben, lesen wie in der WELT.

Wie sieht es aus mit der ethnologischen / sozialanthropologischen Erforschung des dörflichen Lebens? Stadtforschung scheint attraktiver zu sein, zumindest für Forschende aus Deutschland. Siehe den früheren Beitrag: Ein Ethnologe aus Pakistan bei den Deutschen in Sauberteich

SIEHE AUCH:

Was suchen Ethnologen im Unterholz der Metropole? Der Zauber der Stadtforschung

Zentrale Lage, menschenleer: Ausstellung Schrumpfende Städte (Berlin)

Urban anthropologist: “Recognize that people want to come to the big cities”

Jeder will nach Berlin oder München, doch in Chemnitz stehen Wohnungen monatelang leer. In manchen ländlichen Regionen Deutschlands herrschen fast schon "chinesische Zustände", wo wir fast nur Rentner oder Kinder antreffen. "Der mittlere Teil der Bevölkerung ist dort unterwegs…

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Was haben Corona-Hamsterkäufe mit der AIDS-Epidemie zu tun?


Leergeräumt: Egoistisches Verhalten ist gewöhnlich zu Beginn von Krisen. Foto: bazzadarambler, flickr


Nicht nur Virologen sind bei einem Virusausbruch, wie wir ihn derzeit weltweit erleben, gefragt. Auffallend viele Anthropologen (Ethnologen) sind in den Medien präsent. Wie wichtig es ist, das menschliche Verhalten zu verstehen, haben uns ja u.a. die Hamsterkäufe gezeigt. Warum räumen die Menschen die Supermarktregale leer, horten Klopapier, Dosenspaghetti, Seife und Desinfektionsmittel und lassen somit ihre Mitmenschen leer ausgehen? Ist das Verhalten der Menschen noch schlimmer als der Virus selbst?

Für den Medizinanthropologen Hansjörg Dilger ist dieses egoistisches Verhalten gar nicht überraschend. Es ist typisch für den Anfang von Epidemien. Es gibt sogar ein Fachwort dafür sagt er in einem Interview mit der Welt, und zwar soziale Anomie (ein Begriff vom Soziologen Emile Durkheim).

Dilger erkennt bei Corona Muster, die er von anderen Epidemien kennt, u.a. von der AIDS-Epidemie, über die er viel geforscht hat, erklärt er:

> Gerade zu Beginn einer Epidemie wissen die Menschen nicht genau, ob sie individuell konkret gefährdet sind und wie eine Ansteckung verläuft; gesicherte Erkenntnisse verbreiten sich erst nach und nach. Bis dahin versuchen die meisten erst einmal, ihren eigenen Schutz zu sichern; dann denken sie an ihr unmittelbares Umfeld und erst danach an den Schutz der Gesellschaft als Ganzes. Diese Reaktion findet man eigentlich bei allen Epidemien.

> Ich habe sehr viel zu HIV/Aids im ostafrikanischen Tansania gearbeitet. Dort konnte man sehen, wie gewisse Werte zeitweilig aufgehoben wurden – gerade wenn die Belastungen in den Familien übermäßig waren: Verwandte zogen sich zurück, Patienten blieben auf sich gestellt oder starben sogar alleine. In den Sozialwissenschaften nennt man das "soziale Anomie": Das heißt, dass Regeln, Normen und Verbindlichkeiten unter solchen Bedingungen teilweise oder ganz außer Kraft gesetzt werden – zum Beispiel der ethische Wert einer Gesellschaft, füreinander da zu sein.

Dieses Verhalten hänge auch damit zusammen, dass uns in Mitteleuropa die Erfahrung fehle, wie bedrohlich solch ein Virus werden kann. "Das haben uns andere Länder voraus; nicht nur die asiatischen", sagt er. Bislang sei der reiche Norden von Epidemien eher verschont geblieben: "Von hier aus gesehen waren das letztlich immer die Krankheiten der anderen." Das habe sich völlig verändert.

Eine extreme Gattung der Hamsterkäufer sind die Prepper. Zu ihrem Lebensstil gehört es dazu, sich ständig auf Krisen und Katastrophen vorzubereiten. Julian Genner vom Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg studiert dieses Phänomen. Ihnen geht es nicht nur um Klopapier, sondern auch um das Horten von Ausrüstungsgegenstände wie Gaskocher, Kerzen, Outdoor-Ausrüstungen und Rucksäcke, um gegebenenfalls schnell aus dem Krisengebiet fliehen zu können, infolge einer Medienmitteilung. „Die Popularität dieses Trends passt in eine Zeit, in der viele Menschen eher pessimistisch in die Zukunft blicken“, sagt er.

Die Prepper sind ihm zufolge jedoch nicht für die leeren Supermarktregalen verantwortlich, wie wir im Interview mit der Stuttgarter Zeitung erfahren:

> Sicher haben manche Prepper jetzt auch aufgestockt. Aber die meisten lehnen sich zurück und sagen: Ich habe keine Panik. Ich habe von allem genug zu Hause. Ich muss mich jetzt nicht in die Schlange stellen. Ich kann ganz gelassen abwarten, ob die Ausgangssperre kommt. (…)
> Diese Leute sagen, Vorbereitung ist eine Form gesellschaftlichen Engagements. Wären alle vorbereitet, müsste jetzt niemand Hamsterkäufe tätigen. Diese Leute sehen Preppen als Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft. (…)
> Manche bezeichnen sich ohnehin lieber als Krisenvorsorger. Diejenigen, die es ernst nehmen, grenzen sich von denen ab, die nur hamstern oder sinnlos Dinge anhäufen. Vielen, mit denen ich spreche, ist es wichtig, dass es sich um eine kontinuierliche Auseinandersetzung handelt, dass man Vorräte ständig erweitert oder optimiert, Listen führt und Konserven an der Verfallsgrenze wieder in den Alltag integriert und verbraucht. Und dass man sich überlegt, welche Fähigkeiten man sich noch aneignen sollte: Erste Hilfe, Selbstverteidigung, Feuermachen. Das ist eine echte Freizeitbeschäftigung.

Beide Interviews haben die Medien hinter einer Bezahlschranke versteckt. Ich frage mich: Sollte man sein Wissen mit Akteuren teilen, die es nicht der Allgemeinheit zur Verfügung stellen? Wer übrigens einen Bibliotheksausweis hat, kann die Artikel über genios.de lesen.

Ein weiteres Interview mit Hansjörg Dilger gibt es u.a. in der Zeit, wo er vor Klischees über "die Chinesen" oder "die Asiaten" warnt. Auf dem Blog medizinethnologie.net ist er mit seinen Mitstreitern auch aktiv. Dort sind bereits mehrere Corona Beiträge erschienen. Zum Hören gibt es ein Interview mit ihm im Deutschlandfunk.

UPDATE

Noch ein Ethnologe studiert Prepper: SRF interviewt den Ethnologen Bradley Garrett

SIEHE AUCH:

Der Wert ethnologischer Krankenhausforschung

Interview mit Verena Keck: "Ethnologen notwendig in der AIDS-Bekaempfung"

Why we need more disaster anthropology

Leergeräumt: Egoistisches Verhalten ist gewöhnlich zu Beginn von Krisen. Foto: bazzadarambler, flickr

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Instituts-Webseiten: Immer noch keinen Dialog mit der Öffentlichkeit

In den letzten zwölf Jahren hat sich nicht viel verändert. Die Webseiten von Ethnologie- und Sozialanthropologie-Instituten sind heute grösstenteils genauso langweilig wie 2004.


Nicht besonders attraktiv, doch beinhaltet zumindestens eine Stellungsnahme zur Flucht- und Migrationsdebatte: Die Webseite des Freiburger Instituts für Ethnologie.

Damals kam eine Untersuchung des Ethnologischen Institutes der Uni Trier zum Schluss, dass “sich die Inhalte der deutschsprachigen Internetauftritte ethnologischer Universitätsinstitute in erster Linie an den Bedürfnissen der internen Studentenschaft, schon seltener an denen eines kundigen Publikums außerhalb des eigenen Instituts und nur in Ausnahmefällen an denen der Öffentlichkeit orientieren”.

Als ich mir kürzlich sämtliche Webseiten deutschsprachiger Ethnologie- und Sozialanthropologie-Institute (mehr als 30) anschaute, musste ich feststellen, dass sich in den letzten 12 Jahren nicht viel getan hat. Ein Dialog mit der Öffentlichkeit findet immer noch nicht statt. Die Webseiten sind weiterhin nur an eigene Studierende und Forschende sowie Forschungsbürokraten und Sponsoren gerichtet.

Die deutsche Ethnologin, die ich letztes Jahr in Oslo auf einer Konferenz in Oslo traf, hatte recht. Sie war beeindruckt darüber, dass mich die Uni Oslo dafür bezahlt, für die Uniwebseiten mehrere Artikel über eine Konferenz zu schreiben.”So einen Service kenne ich leider überhaupt nicht in Deutschland”, sagte sie. “Für administrative Dinge ist sehr wenig Geld da, die Websites werden häufig von den Sekretärinnen bestückt, die ständig am Rand ihrer Belastbarkeit sind.” (Siehe auch früherer Beitrag zum Thema: Weder Zeit noch Geld für Medienarbeit)

An Unis in Norwegen ist Kommunikation mit der Öffentlichkeit mittels journalistisch aufgearbeiteter Forschungsnachrichen inzwischen Standard geworden – nachdem Thomas Hylland Eriksen in der Anfangszeit ziemlich lange allein auf weiter Flur war mit seinen Bemühungen, Brücken zwischen Forschung und Öffentlichkeit zu bauen.

Die letzten zehn Jahre hab ich mich deshalb so einigermassen mit Forschungsjournalismus in Oslo übers Wasser halten können. Ich habe sämtliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehrerer Forschungsprojekte interviewt, Studenten während ihrer Feldforschung auf vier Kontinenten angerufen und nach ihren Erfahrungen befragt, Master- und Doktorabhandlungen und neue Bücher vorgestellt – und natürlich viele Zusammenfassungen von Seminaren und Konferenzen geschrieben (siehe u.a. hier).

Die besten Webseiten

Platz 1

Aber es gibt Ausnahmen im deutschsprachigem Raum. Wenn ich eine Rangliste über die besten Institutswebseiten aufstellen müsste, dann hätte ich einen eindeutigen Gewinner – es ist die Webseite des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle, also kein universitäres Institut.


Klare Nummer 1: Die Webseite des Max Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle.

Kein anderes Institut im deutschsprachigen Raum präsentiert seine Forschung so ansprechend der Aussenwelt. Zwar ist das News-Archive etwas bürokratisch gehalten und die Beschreibungen der Forschungsprojekte etwas trocken. Doch in der Mediathek gibt es jede Menge Bilder aus der Forschung sowie neun Dokumentarfilme.

Eines der Forschungsprojekte hat einen eigenen Blog, den REALEURASIA Blog, mit imponierend vielen Beiträgen. Das Institut hat auch zwei Beiträge zum Thema Terrorismus beigesteuert: Wie Terroristen gemacht werden (von Günther Schlee) und „Wir tappen immer noch im Dunkeln“ (Interview mit Carolin Görzig)

Eine grosse Anzahl von Working Papers gibt es auch.

Platz 2

Platz zwei würde ich dem Institut für Ethnologie in München vergeben.

Auf den ersten Blick schaut die Münchner Seite so gähnend langweilig wie alle anderen Institutsseiten aus. Eine neue Welt tut sich denjenigen auf, die auf den unscheinbaren Menüpunkt “Schmankerl” klicken. Hier gibt es ansprechend aufgearbeitete Einblicke in die Forschung des Instituts. Es gibt Studentische Filme zu sehen, Ausstellungen sowie Feldforschungsberichte, u.a. über Ökotourismus-Projekte in Mexiko oder Civil Society in Pakistan oder Remoteness & Connectivity – Highland Asia in the World – und zwar mit Bildern und Videos.

Platz 3

Platz 3 würde ich an das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Uni Wien vergeben. Internes dominiert auch hier, doch in der Sektion News gibt es teilweise auch Lesestoff für die interessierte Öffentlichkeit. Es wird auf Interviews mit Forschern hingewiesen (“Migration als Chance, über uns nachzudenken”) und auf Videos über ein Fieldworkslam und einen Berufsinformationsfilm. Ausserdem hat das Institut eine Webseite erstellt zum Thema: ‘Mehr Als Flucht. Initiativen und Hintergründe aus Kultur- und Sozialanthropologischer Perspektive’ (Hier finde ich allerdings die Idee besser als die Durchführung).

Platz 4

Ein guter Kandidat für den vierten Platz sind die Webseiten des Lehrstuhls für Ethnologie und Kulturanthropologie an der Uni Konstanz. Denn dieses Institut hat seit drei Jahren seinen eigenen Blog, wo zu aktuellen Ereignissen Stellung genommen wird, z.B. zu Der Fluch der ‚Kariben‘ – Zu Disneys Darstellung anthropophagischer Ureinwohner in Piraten der Karibik 2 oder wo Forscherinnen selbst von ihrer Forschung berichten wie z.B. Sarah Fuchs in ihrem Beitrag Armut, Kultur oder Menschenhandel? Die „Biographie des Bettelns“ in Senegals Koranschulen.

Platz 5

Zu guter Letzt auf Platz 5 die Facheinheit Ethnologie an der Uni Bayreuth. Gleich auf der Startseite werden wir auf drei studentische Videos hingewiesen, die im Seminar “Schreiben und Mediales Präsentieren: Picturing Anthropology” (SS 2015) von Valerie Hänsch entstanden sind. Herauszuheben ist die umfangreiche Photogalerie mit Bildern von Feldforschung in diversen afrikanischen Ländern.

Habe ich gute Seiten übersehen?

SIEHE AUCH:

Halle, Bern und Basel vorn – Webseiten von Ethnologie-Instituten untersucht (1.9.2004)

Weder Zeit noch Geld für Medienarbeit (17.5.2010)

Nancy Scheper-Hughes: Public anthropology through collaboration with journalists (7.8.2009)

Michael Schönhuth: Mehr Interesse für eine öffentliche Ethnologie? (15.11.2009)

In den letzten zwölf Jahren hat sich nicht viel verändert. Die Webseiten von Ethnologie- und Sozialanthropologie-Instituten sind heute grösstenteils genauso langweilig wie 2004.

Nicht besonders attraktiv, doch beinhaltet zumindestens eine Stellungsnahme zur Flucht- und Migrationsdebatte: Die Webseite des Freiburger Instituts für…

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"Den Geist des Krieges beschwören": Mit EthnologInnen beim Völkerschlacht-Jubiläum


Militaristisch, historisch mahnend oder Tourismusattraktion? Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig. Foto: Mike TheG-Forcers, flickr

Ein unwohles Gefühl befiel mich, als ich mir vor vielen Jahren das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig anschaute. Ähnlich ist es den EthnologInnen Friedemann Ebelt und Theresa George ergangen, als sie das Denkmal kürzlich besuchten um sich das Reenactment der Völkerschlacht bei Leipzig anzusehen.

Diese Nachstellung der Schlacht fand anlässlich des Doppeljubiläums 200 Jahre Völkerschlacht – 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal statt. Durch zahlreiche Veranstaltungen sollte das Völkerschlachtdenkmal zu einem Mahnmal der Leiden des Krieges und zu einem Symbol des europäischen Zusammenlebens werden.

Im folgenden Beitrag zeigen die EthnologInnen, wie bei dieser lebendigen Geschichtsdarstellung stattdessen der Geist des Militarismus aufs Neue zum Leben erweckt wurde.


Vom Krieg besessen: Was passiert, wenn Schlachten zu lebendiger Geschichte werden

Von Friedemann Ebelt und Theresa George

Im Oktober verbrachte ich mit der Ethnologin und Filmemacherin Theresa George anlässlich der Gedenkwoche zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig vier Tage in der Messestadt. Mit Kamera und Bleistift wollten wir herausfinden, worum es bei der Lebendigmachung von Geschichte im Kern geht. Aus ethnologischer Perspektive handelt es sich um eine Geisterbeschwörung.

1813 lassen in der Völkerschlacht bei Leipzig unzählige Soldaten ihre Leben und ihre Körper auf den Schlachtfeldern. Aus den toten Körpern steigt ein Kriegsgeist empor, der über 200 Jahre hinweg immer wieder lebendig gemacht wird. 100 Jahre nach der Völkerschlacht wird diesem Geist mit der Errichtung des Völkerschlachtdenkmals ein ewiger Körper aus Stein gemauert.

Der Geist von 1813 zieht in das Bauwerk ein. Seit dem haust er dort in der Gestalt der Vorstellung, dass die nationale Geschichte Deutschlands eine militärische Leistung sei. Für die Ahnen der 1813 getöteten Soldaten wird das Völkerschlachtdenkmal ein priviligierter Ort, an dem sie den Geist des Krieges und des Militarismus beschwören. 1913 führt dieser Geist wieder Menschen in Soldatenuniformen in den Ersten Weltkrieg. 1933 fährt der Geist des Militarismus in die Fackeln und Fahnen der Nationalsozialisten und nach dem Zweiten Weltkrieg beseelt er die Insignien der Nationalen Volksarmee.

Der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro schreibt über religiösen Ahnenkult und die vielen Körper des Geistes: „Die Geistige Identität überschreitet die körperliche Schranke des Todes, die Lebenden und die Toten sind ähnlich, solange sie vom selben Geist beseelt sind – das »über-menschliche« Ahnentum und die geistige Besessenheit einerseits und (…) die körperliche Metamorphose andererseits“.

Zweihundert Jahre nach der Schlacht, also im Jahr 2013 wird der Versuch unternommen den Geist des Krieges mit einer Gedenkwoche zu befrieden. Durch zahlreiche Veranstaltungen soll das Völkerschlachtdenkmal zu einem Mahnmal der Leiden des Krieges und zu einem Symbol des europäischen Zusammenlebens werden.

In Podiumsgesprächen werden Vergangenheit und Zukunft Europas, der Wert des Friedens aber auch die Schrecken und Details der Schlacht von 1813 diskutiert. In Friedensgebeten und Gottesdiensten wird den Toten der Kriege gedacht. Ausstellungen zeigen Gemälde, Artefakte und Zeitdokumente. Im Inneren des Völkerschlachtdenkmals können Interessierte an Spezialführungen teilnehmen und außen wird Europa und der Frieden mit Sportveranstaltungen, Konzerten, Lichtshows und Feuerwerk gefeiert.

Doch der Geist des Militarismus lässt sich nicht vertreiben. Er wird während der Gedenkwoche aufs Neue zum Leben erweckt. Die eindrücklichste Verkörperung des Geistes ist die militärhistorische Nachstellung der Völkerschlacht bei Leipzig. Vier Tage lang werden Schlachtfelder ausgebreitet und Kanonen herbei gerollt. 6000 Menschen in historischen Uniformen verleihen dem Geist der Schlacht von 1813 einen neuen Körper. Die HobbyhistorikerInnen beschwören ihn mit ihren originalgetreuen Waffen, ihrem authentisch militärischem Verhalten und ihrem Interesse für die Geschichte Europas als Militärgeschichte.

Gesagt wird, dass es sich um ein legitimes historische Interesse handelt, wenn Geschichte zum Anfassen inszeniert wird – und das ist auch wahr. Aber wenn Hobbysoldaten und Publikum bei Gesprächen über militärische Tötungsakte und Schlachtstrategien eine gruselige Freude empfinden und wenn Kinder in ihrem Kriegsspiel die Kriegsbegeisterung ausleben, die die Disziplin der uniformierten Erwachsenen unterbindet – geht es nicht um Interesse an Geschichte, sondern es wird der Geist des Militarismus belebt.


Warum marschieren die todbringenden und gleichzeitig todgeweihten Körper in ihren Uniformen statt auf ein Schlachtfeld nicht auf einen symbolischen Friedhof um ihre Waffen, Abzeichen und Uniformen niederzulegen? Foto: Friedemann Ebelt und Theresa George

Der harmlose Krieg

Im Gegensatz zu 1913 stehen 2013 keine Soldaten am Völkerschlachtdenkmal, die auf einen kommenden Krieg eingeschworen werden. Stattdessen wird der Geist des Militarismus mit flachem Puls und vielleicht auch durch Unaufmerksamkeit zum Leben erweckt.

Es droht keine Kriegsbreitschaft, aber die Bajonette glänzen in der Sonne und die Soldaten lächeln mit faisten Wangen. Kein Blut, keine Schreie und kein Tod. Die Inszenierung der Hobbysoldaten kann als Geschichtvermittlung gelten, weil die Kostüme, die Waffen und das Verhalten authentisch erscheinen.

Plausibel ist dieses Schauspiel trotzdem nicht, denn die Geister der Verhungerten und Erkrankten, die Geister der Soldaten, deren Uniformen an ihrer Haut schimmelte und all die Geister von den verkrüppelten, traumatisierten und krepierten Menschen werden nicht verkörpert. Es geht auch nicht, dass in den Gassen der historischen Dörfer stinkende, schreiende und tote Körper liegen, denn dann würden keine Zuschauer kommen und die OrganisatorInnen der friedlichen Schaugefechte könnten sich nicht historisch überlegen zum kriegerischen Jahr 1813 fühlen.

Allen, die Spektakel einer lebendigen Geschichte organisieren ist bewusst, dass erlebbare Geschichte nur möglich ist, weil die historischen Zustände nicht erlebbar gemacht werden. Stattdessen basiert die Belebung von Geschichte auf einer romantischen Reinigung von Brutalität und Schönheit. Diese Reinigung ist notwendig, damit der Terror des Kriegs als Veranstaltungswoche genossen werden kann. Die Reinigung gelingt in Leipzig im Oktober 2013 aber nicht vollständig, weil sich der Terror aus Bajonetten und Kanonen nicht zurückzieht, nur weil das Kriegsgerät nicht zum tödlichen Einsatz gebracht wird.

Dass diese Reinigung eine abenteuerliche Gratwanderung ist, wird offensichtlich, als der Moderator ein Schaugefecht mit den Worten „Trotz des eigentlich traurigen Anlasses – Gute Unterhaltung!“ eröffnet. Nach dem Artilleriedonner ist das Spektakel zu Ende: „Wir danken den Kanonieren mit großem Applaus!“ In diesen Veranstaltungen erfährt das Publikum Details zu den Waffengattungen, zu den Kampftaktiken und zum Kampfgeschehen.

Als Teil des Publikums erfuhr ich auf wie viele Meter welche historische Waffengattung tödlich ist. Ein Mann mit seinem Sohn an der Hand schwärmt einem Freund mit glänzenden Augen vor: „Die haben sich Auge in Auge gegenübergestellt und sich abgeschlachtet.“ Vor einem Zelt im Biwak: Ein Hobbysoldat in der Uniform der preußischen Landwehr von 1813 salutiert mit seiner Mütze und ruft den vorbeigehenden Soldaten entgegen: „Euch Tod und ewige Verdammnis!“. Noch vor wenigen Stunden sagte dieser Mann, dass hier alle Freunde seien und man sich prächtig verstehe.

Ermöglicht es eine historische Rolle, einem Freund Tod und ewige Verdammnis zu wünschen? In solchen Momenten wird der Geist des Militarismus lebendig und weil die nachgestellten Gefechte scheinbar einem aufklärerischen historischen Interesse dienen, wird es möglich den Militarismus zu genießen.

In der Mittagspause marschieren fünf Hobbyhistoriker in Uniform in einen Asia-Imbiss ein. Beim Anstoßen mit deutschem Bier, denn das asiatische macht Schlitzaugen, wird ausgerufen:„Gott schütze Preußen!“ Erlebbare Geschichte und erlebbare Gegenwart verschmelzen unter den Kostümen, die dann keine mehr sind. Die Soldatenrolle wird in der Mittagspause nicht verlassen – weil sie nicht nur eine gespielte Rolle ist.

De Castro schreibt: „Eine Kleidung-Maske zu tragen, bedeutet weniger eine, menschliche Essenz (…) zu verbergen, als Mächte eines anderen Körpers zu aktivieren“. Diesem Gedanken weiter folgend sind die historischen Uniformen „keine Verkleidungen, sondern Instrumente: Sie ähneln den Taucherausrüstungen (…) nicht den Fasnachtsmasken. Wer einen Taucheranzug anzieht, beabsichtigt, wie ein Fisch funktionieren zu können, und nicht, sich unter einer eigenartigen Form zu verstecken“.

Beim Waffenputzen, Singen oder Kanonenabfeuern entstehen Momente in denen die vernünftige Gefasstheit der lebendigen Geschichte verlorengeht. Ein scheinbar sachlich-historisches Interesse weicht der Faszination der Macht durch Waffengewalt.

Während unseres Besuchs der Gedenkwoche fragen wir uns, wie es sich für die Hobbysoldaten anfühlt, wenn sie sich während eines Angriffs in der historischen Gefechtsdarstellung totspielend zu Boden fallen lassen. Und: Wie fühlt es sich auf der anderen Seite an, das originalgetreue Gewehr zu laden, auf die historischen Feinde zu richten und abzufeuern um dann zu sehen, dass jemand zu Boden fällt?

Mit dem Buch Im Rausch des Rituals , das die Ethnologen Klaus-Peter Köpping und Ursula Rao 2000 herausgegeben haben, sind die Szenen der Gefechte als kollektive kulturelle Performanzen zu verstehen, in denen Werte ausgedrückt, bestätigt und in Körper eingeschrieben werden.

Kinder und die Freude am Kriegspielen

Nachdem wir dem Geist des Militarismus auf die Spur gekommen waren, fragten wir uns, ab wann seine Erweckung problematisch wird. Beim Blättern in unseren Notizheften und beim Anschauen von Fotos wurde uns klar, dass der Geist des Militarismus nicht nur Erwachsene ergreift, sondern auch in Kindern lebendig wird.

Eltern tragen ihre Kinder auf dem Arm an die Pferde der Soldaten heran, damit die Kleinen die Tiere streicheln können. Im Hintergrund reiten Kavalleristen vorbei und Kinder galoppierten mit Steckenpferden hinter den berittenen Soldaten her.


Wieso stört es die Erwachsenen nicht, wenn ihre Kinder zu Soldaten werden? Foto: Friedemann Ebelt und Theresa George

Eine andere Szene: Sechs Hobbysoldaten proben Wachablösung in einem historischen Dorf. Ein Kind betrachtet die Szene und schießt mit seinem Stockgewehr auf die Soldaten und in das Publikum. Wenn ein kleiner Junge vor Soldaten, die eine Wachablösung proben, Krieg empfindet und mit seinem Körper das Abfeuern eines Gewehres spielt und dabei auf Menschen zielt, ohne, dass irgendjemand etwas sagt, dann verkörpert dieser Junge die Freude, die die Hobbysoldaten empfinden, wenn sie auf ihrem Schlachtfeld stehen.

Anders gesagt, haucht in dieser Szene ein Hobbyoffizier als Ritualmeister beim Üben einer militärischen Wachablösung seinen Hobbysoldaten den Geist des Krieges ein, der auch in das zuschauende und mitmachende Kind fährt. Der Unterschied ist, dass das Kind im Gegensatz zu den Wachen diesen Geist nicht diszipliniert, geheimhält, oder versteckt.

Am Abend marschiert dann ein Trupp von vielleicht 20 Soldaten im Gleichschritt durch den Biwak ihrer historischen Gegner. Einhundert Meter weiter spielen ein paar Kinder mit Stöcken und Steinen Infanterieangriff vor den Biwaks der großen Hobbysoldaten. Ein kleiner Junge sitzt auf den Schultern seines Vaters und senkt am ausgestreckten Arm einen Stock wie ein Kavallerist seinen Säbel zum Angriff.

Die Begeisterung mit der die Kinder spielen, sich gegenseitig zu verletzten und zu töten, löste bei uns Beklommenheit aus. Wieso stört es die Erwachsenen nicht, wenn ihre Kinder zu Soldaten werden?

Scheinbar friedlich erleben die Großen und Kleinen die Idee des gerechten und edlen Kampfes und tauchen in ein harmloses, aber befriedigendes, womöglich sogar therapeutisches Kriegsspiel ein.

Der Geist, der zum 200. Jubiläum der Völkerschlacht geweckt wurde, lebt von der Lust, ab 15 Euro Eintritt den Nervenkitzel von Krieg kosten zu dürfen – ohne ihn tatsächlich erleben zu müssen. Das Rollenspiel der Erwachsenen ist aber ein verkapptes Spiel, weil sie die Emotionen, die die Vorstellung im Kampf zu sein, bei ihnen auslösen, hinter einem vorgeschobenem historischen Interesse verbergen. Die Gefahr dabei ist, dass sowohl Erwachsene als auch Kinder mit einem positiven Kriegstrauma die Gedenkwoche verlassen.

Gleichzeitig sind es Kinder, die den Geist des Militarismus auf Gefühlsebene entlarven. Sie weinen und schreien, wenn Kanonendonner in der Dunkelheit die Luft zum Zittern bringt. Sie spüren das Grauen dieser Kriegsspiele und davon berührt fragten wir uns, warum lebendige Geschichte eigentlich militant sein muss? Warum marschieren die todbringenden und gleichzeitig todgeweihten Körper in ihren Uniformen statt auf ein Schlachtfeld nicht auf einen symbolischen Friedhof um ihre Waffen, Abzeichen und Uniformen niederzulegen?

Das Erinnern an Krieg ist möglich, ohne den Geist des Militarismus wiederzubeleben, wenn lebendige Geschichte Zivilisten statt Soldaten hervorbringt. Wenn Frieden die Botschaft der Gedenkwoche sein soll, dann muss ein lebendiges Bewusstsein für Frieden und Achtung vor Körpern zum Leben erweckt werden. Statt dessen werden aber die Apparate, Geisteshaltungen und Verhaltensweisen, die erdacht wurden sind, um möglichst viele Körper in möglichst kurzer Zeit im Namen des Geistes einer Nation, eines Königs oder eines Volkes zu töten, zur Schau gestellt und verehrt.

Solange es lebendiger Geschichtsdarstellung darum geht, welche Seite mit welchen Waffen und cleveren Taktiken welchen Sieg errang und welche Wichtigkeit das für den Fortgang der Geschichte hat, wird der Geist des Militarismus zum Leben erweckt.

Friedemann Ebelt ist Ethnologe, Filmemacher und Medienwissenschaftler. Er lebt in Halle an der Saale. Die Ethnologin, Journalistin und Filmemacherin Theresa George lebt in Hamburg.

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Die Schlacht im Teutoburgerwald und die Relevanz von antiker Ethnologie

Militaristisch, historisch mahnend oder Tourismusattraktion? Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig. Foto: Mike TheG-Forcers, flickr

Ein unwohles Gefühl befiel mich, als ich mir vor vielen Jahren das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig anschaute. Ähnlich ist es den EthnologInnen Friedemann Ebelt und Theresa George ergangen, als…

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