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Die Gefahren des eurozentrischen Weltbildes

(LINKS AKTUALISIERT 8.4.2020) Europäer sehen sich gerne als die Krönung der Schöpfung. Immer wieder hört man die Behauptung, Demokratie und Menschenrechte seien “westliche Werte”. In einem Interview mit dem ORF spricht Sozialanthropologin Shalini Randeria von der Uni Zürich über die Gefahren eines solchen eurozentrischen Weltbildes:

Mit welcher Glaubwürdigkeit können westliche Regierungen in Libyen – angeblich zum Schutz der Zivilbevölkerung – eingreifen, die für hundert Tausende zivile Tote im Irak mitverantwortlich sind?

Aber in Ländern des Nahen Ostens gibt es eine Sehnsucht in weiten Teilen der Bevölkerung nach politischer Teilhabe, gerechter Verteilung, Menschenwürde und Demokratie. Das allerdings sind nicht nur westliche Werte, die von Altertum oder Christentum direkt abgeleitet werden können. Säkularismus, Zivilgesellschaft und Demokratie in Europa sind das Ergebnis eines jahrhundertelangen Kampfes gegen die Kirche und die absolute Herrschaft gewesen.

Ich glaube, in jeder Gesellschaft gibt es eigene Vorstellungen von Gerechtigkeit. Und was nach dem “arabischen Frühling” zustande kommen wird, ist wahrscheinlich keine französische oder britische Demokratie.

Die Forscherin erinnert auch daran, dass westliche Regierungen bis vor kurzem gute Geschäfte mit Diktatoren wie Gaddafi gemacht haben. Diese Regierungen dürfen sich jetzt “nicht aus der Verantwortung für die Flüchtlinge aus Libyen stehlen”.

Noch mehr Doppelmoral:

In Europa führt man Steuererleichterungen für deutsche oder französische Kinder ein, während die vermeintliche Überbevölkerung der “Anderen” als globales Problem dargestellt wird. Zu viele sind immer die Anderen, seien es die Migranten in Europa oder die Armen in den Entwicklungsländern.

>> weiter beim ORF

Auf ihrer Webseite gibt es Interessantes zu lesen. Ich hatte sie früher einmal erwähnt, siehe Ethnologin Shalini Randeria zum Kastensystem und Hindunationalismus, dort befindet sich auch ein Link zu einem Interview mit ihr in der Zeit: Asien ist längst weiter.

Auf YouTube ist sie mit zwei Videos vertreten:

In diesem Streitgespräch “Die Zukunftsthemen der Wissenschaft” kritisiert sie unter anderem mangelde Diversität an den Unis. Die Lehrenden und Forschenden seien “männlich, weiss und relativ alt”.

HU200: Erstes Humboldt-Streitgespräch "Die Zukunftsthemen der Wissenschaft"

Und hier ist ein Vortrag über Globalisierung und Ungleichheit: ‪Breaking the Wall of Privatisation of the Commons. How anthropology can help understand global entanglements:

Shalini Randeria - Breaking the Wall of Privatisation of the Commons @Falling Walls 2010

SIEHE AUCH:

How racist is American anthropology?

Ägypten: Warum hat der Westen Angst vor Demokratie?

Ethnologe Christoph Antweiler: Wie universell sind die Menschenrechte?

Jack Goody: “The West has never been superior”

David Graeber: There never was a West! Democracy as Interstitial Cosmopolitanism

Mahmood Mamdani: “Western concern for Darfur = Neocolonialism”

Lila Abu-Lughod: It’s time to give up the Western obsession with veiled Muslim women

Gefährlicher “interkultureller Dialog” in Jugendbüchern

Vermitteln Ethnozentrismus und ein ueberholtes Bild von der Ethnologie?

Die Angst vor den Minderheiten – Appadurai nun auch auf deutsch

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Integrations-Studie: Der nationale Diskurs grenzt aus, der lokale schliesst ein

Sie sind überzeugte Hamburger oder Berliner, doch sehen sich nicht als Deutsche. Das zeigt die Studie “At Home in Europa – Muslims in Europa” des Londoner Open Society Institute. In elf europäischen Städten untersuchten Forscher die Identifikation muslimischer EinwohnerInnen mit der Mehrheitsgesellschaft.

Rund 70% der Muslime in Berlin und Hamburg sind Lokalpatrioten und identifizieren sich mit ihrer Stadt. Doch nur 25 Prozent der Befragten betrachten sich als Deutsche. Und nur 11 Prozent sind der Meinung, auch von anderen als Deutsche angesehen zu werden.

Beim nationalen Zugehörigkeitsgefühl der Muslime erzielte Deutschland den niedrigsten Wert, England den höchsten. Selbst unter in Deutschland geborenen Muslimen in Berlin fühlen sich nur 35% als Deutsche. Dagegen sehen sich 94 Prozent der in England geborenen Muslime in Leicester als Engländer.

Die Integration in Deutschland funktioniere lokal vor Ort, nicht jedoch auf nationaler Ebene, kommentiert Ethnologe Werner Schiffauer, der auch an der Studie teilnahm. Der nationale Diskurs grenze aus, der lokale schliesse ein, so Schiffauer in der taz:

“Während der nationale Diskurs abstrakte Fragen wie Werte und Voraussetzungen von Zugehörigkeit in den Fokus stellt, geht es lokal um pragmatische Fragen von Partizipation und praktischem Zusammenleben.”

Die Studie, so Schiffauer in der Berliner Umschau widerlege den weitverbreiteten Eindruck, Muslime wollten sich „ausgrenzen“. Der Grossteil der Befragten würde gerne in ethnisch und kulturell gemischten Wohngegenden leben. Die Vermutung, dass vor allem Araber und Türken nicht integriert werden wollen, sei falsch.

Einen wesentlichen Grund für die schlechte nationale Integration sehen die Forscher im exklusiven, deutschen Staatsbürgerrecht, schreibt der Tagesspiegel. Etwa die Hälfte der Muslime in Berlin könne keinen Einfluss auf die Politik nehmen oder ihre Stadtteile mitgestalten,

Diskriminierung sei eine bedeutende Barriere für die Integration, können wir in der Studie nachlesen, die gratis im Netz zum Herunterladen zur Verfügung gestellt wurde. Die Forscher empfehlen unter anderem, Hasskriminalität und rasistisch motivierte Taten genau zu registrieren.

Besonders in Deutschland, wo noch das Blut-und-Boden-Prinzip vorherrscht, sind Reformen des Staatsbürgerrrechtes notwendig. Es solle einfacher werden, die Nationalität seines Wohnlandes anzunehmen. “Being German means ethnicity, that’s why I can’t be German, but I can be a German citizen”, so ein Informant. Auch “Ausländern” sollte das Wahlrecht garantiert werden, so die Forscher der Studie.

>> Download der Studie und diverser Zusammenfassungen (!)

Es wäre schön, wenn alle Forschungsergebisse so leser- und medienfreundlich aufgearbeitet und nicht – wie sonst üblich – in oft schwer zugänglichen Papirbüchern versteckt würden.

SIEHE AUCH:

“Germans stick to the ethnic definition more than any other European nation”

Werner Schiffauer zum Mord an Marwa El-Sherbini: “Islamophobie reicht bis in die Mitte der Gesellschaft”

Ethnologe: Muslimhetze und Finanzkrise sorgen für Boom des Islamic Banking

Neue Studie: Islamisches Gemeindeleben in Berlin

Kosmopolitismus statt Multikulturalismus!

Buchbesprechung: Unser merkwürdiger Umgang mit “Fremdem”

Sie sind überzeugte Hamburger oder Berliner, doch sehen sich nicht als Deutsche. Das zeigt die Studie "At Home in Europa - Muslims in Europa" des Londoner Open Society Institute. In elf europäischen Städten untersuchten Forscher die Identifikation muslimischer EinwohnerInnen mit…

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Wenn christliche Terroristen töten

Der Standard interviewt Ethnologen Dominic Bryan zum jüngsten Terroranschlag auf britische Soldaten in Nord-Irland, bei dem zwei Armeeangehörige ums Leben kamen.

Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich europäische Medien über Terroranschläge berichten, je nachdem ob sie von Christen oder von Muslimen ausgeführt werden. Hier wird nicht über Christentum und Gewalt debattiert. Der Konflikt wird als politischer Konflikt diskutiert. Dies ist wohl auch richtig so, denn – so Ethnologe Bryan – es handelt sich in Nordirland nicht in erster Linie um einen Glaubenskrig zwischen Protestanten und Katholiken:

“Obwohl wir die beiden Gruppen als Katholiken und Protestanten bezeichnen, geht es um die politische Frage, ob die sechs Grafschaften Nordirlands weiterhin innerhalb Großbritanniens existieren oder aber ein Teil eines vereinigten Irlands werden.” Eine genauere politische Bezeichnung der beiden Gruppierungen wäre demnach Nationalisten (katholische Seite) und Unionisten (protestantische Seite), obwohl auch religiöse Elemente eine Rolle spielen würden. Aber: “Der Konflikt dreht sich nicht wirklich um Religion, sondern um die Legitimität, in welchem Staat wir leben”, so Bryan.

So differenziert wird selten diskutiert, wenn es z.B. um Taliban geht. Lassen sich Parallelen ziehen? Im Kommentar Missing the essence of Talibanism in der pakistanischen Zeitung “The News” schreibt Ayaz Amir:

I think we are not getting it. Talibanism in Afghanistan is a revolt against the American occupation. (…) But Pakistani Talibanism (…) is a revolt against the Pakistani state. (…) If this were Nepal this would be a Maoist uprising. If this were a Latin American country it would be a peasant or a Guevarist uprising. Since it is Pakistan, the revolt assaulting the bastions of the established order comes with an Islamic colouring, Islam reduced to its most literal and unimaginative interpretations at the hands of those leading the Taliban revolt.

Dieses Thema bespricht auch Ethnologe Gabriele Marranci in seinem Beitrag Terrorism in the name of Jesus? Everybody ignore

SIEHE AUCH:

Ethnologe: “Ethnien und Religion sind keine Kriegsursachen”

Der Standard interviewt Ethnologen Dominic Bryan zum jüngsten Terroranschlag auf britische Soldaten in Nord-Irland, bei dem zwei Armeeangehörige ums Leben kamen.

Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich europäische Medien über Terroranschläge berichten, je nachdem ob sie von Christen oder…

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Eine “grossartige” Ethnographie über die Dinge in unseren Wohnungen

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Der Anthropologe Daniel Miller hat 30 Bewohner einer Londoner Strasse besucht. Das Resultat ist das Buch “The Comfort of Things”. Die Sueddeutsche ist ganz begeistert:

Dieses literarisch und menschlich in den Bann ziehende Sachbuch führt vor, wie heutige Menschen über die Objekte in ihren Häusern und Wohnungen zu sich selbst und zu anderen finden; wie ihr Menschsein jedenfalls ohne ihre intensive oder auch nur sporadische und nonchalante Beziehung zu den sie umgebenden Gegenständen nicht verstanden werden kann.

Und Daniel Millers Buch zeigt einleuchtend, dass der Wert solcher Beziehungen keineswegs von der Einzigartigkeit und “Persönlichkeit” von Produkten abhängt – sondern dass im Gegenteil auch die billigsten, kitschigsten Dinge aus der Massenproduktion für die Menschen das stiften können, was Ute Guzzoni das “Sinngewebe” von Subjekten und Objekten nennt.

Das Buch des Professors und Material World-Bloggers besteht aus 30 Einzelporträts:

Da ist der homosexuelle Platten- und Gefühlesammler, der 15 000 Schallplatten und 2000 CDs als “Repertoire der Emotionen” nutzt und das Wachsen solcher Besitztümer als ganz natürliches Wachsen auch der Person empfindet. Da ist das Pub-Besitzer-Paar im Ruhestand, das alle seine Wände mit Memorabilien aus der Zeit der Kneipengeselligkeit vollnagelt und nach und nach diejenigen, die nur noch in entfernterer Erinnerung sind, von konkreten Freunden in typisierte Anekdoten-Träger verwandelt: “Weißt Du noch, wie James und Mary . . .”

Da ist der Abkomme australischer Ureinwohner, dessen eigentliches Zuhause sein Laptop ist, mit dem er nicht nur seine Kontakte pflegt, sondern auch sich selbst archiviert, alles Private permanent in Ordnern ordnet, bereinigt und beschriftet. Da ist die gefühlvolle Griechin, die in einer “Welt des magischen Realismus” lebt, die über Schmuck, Möbel und Kleidung mit den toten Verwandten kommuniziert, die die Dinge einst benutzt haben. Der eine möbliert ständig um, der andere lässt alles stehen, bis es ihm beinahe unsichtbar erscheint.

>> weiter in der Sueddeutschen

Weitere Besprechungen des Buches sind zu finden im Independent und New Statesman. Siehe auch Daniel Millers Ankuendigung.

SIEHE AUCH:

“Study how and why people wear denim around the world!”

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Der Anthropologe Daniel Miller hat 30 Bewohner einer Londoner Strasse besucht. Das Resultat ist das Buch "The Comfort of Things". Die Sueddeutsche ist ganz begeistert:

Dieses literarisch und menschlich in den Bann ziehende Sachbuch führt vor, wie heutige Menschen über die…

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Neue Ausgabe von Journal Ethnologie ueber Georgien

“Seltsames Gefühl. Seit Jahren bereiteten wir ein Forschungsprojekt zu Georgien vor. Nach vier Jahren reichten wir endlich den Projektantrag ein und zu unserer großen Freude wurde das Projekt bewilligt. Kurze Zeit später geht das Land, in dem wir forschen wollten, in Flammen auf. Es war der 8. August: Georgien überfiel Zchinwali in Südossetien und Russland überfiel Georgien.”

So beginnt der einleitende Artikel Georgien. Eine Annäherung von Stéphane Voell in der neuen Ausgabe von Journal Ethnologie zum Thema Georgien. Wir finden darin auch einen Text ueber „Meskhetische Türken“, die eigentlich so gar nicht genannt werden wollen. Ethnologin Natia Jalabadzewar entdeckte kulturelle Traditionen aus christlicher und vorchristlicher Zeit im Leben der Meskheter. Im Text Christen oder Muslime? „Meskhetische Türken“ in der georgischen Samtredia-Region erklaert sie die Hintergruende.

Ausserdem i dieser Ausgabe: Über Rituale, Weinkeller und den Fortschritt auf dem Land. Eine deutsch-georgische Exkursion nach Chewsuretien und Kachetien (Von Godula Kosack), Georgien – ein Land mit vielen Bevölkerungsgruppen (von Ulrike Krasberg) und Begegnungen im Kaukasus (von Elke Kamm)

In Georgien leben viele Bevoelkerungsgruppen. Das Land hat eine internationale Geschichte. Dennoch reden die Autoren meist ueber “ethnische Gruppen” als feste Einheiten. Den Eindruck hatte ich zumindest nach einem Ueberfliegen der Texte.

“Immer wieder marschierten Völker nach Georgien ein und teilten die Region unter sich auf. Durch die Jahrhunderte konnte – nach Meinung vieler Georgier – die nationale Identität aber erhalten bleiben”, schreibt Stéphane Voell. Doch ist es nicht eher so, dass nationale oder ethnische Identitaet erst in Abgrenzung zu anderen Gruppen entsteht?

"Seltsames Gefühl. Seit Jahren bereiteten wir ein Forschungsprojekt zu Georgien vor. Nach vier Jahren reichten wir endlich den Projektantrag ein und zu unserer großen Freude wurde das Projekt bewilligt. Kurze Zeit später geht das Land, in dem wir forschen wollten,…

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