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Wozu Arbeit, Stress und Hierarchien? Vergessener Klassiker wieder erhältlich

[Im Blatt Freitag](https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/heimlicher-klassiker) stellt Thomas Wagner einen Klassiker der Ethnologie umd Sozialanthropologie vor, der jetzt zum ersten Mal seit 1976 in einer Neuauflage wieder verfügbar ist: [Staatsfeinde von Pierre Clastres](https://www.k-up.de/9783835391215-staatsfeinde.html).

Einer der wichtigsten Aufgaben unseres Faches ist es zu zeigen, dass die Welt oft anders funktioniert als wir meinen, dass Vieles, das von der Mehrheit als normal erarchtet wird, gar nicht normal ist, wenn wir über unseren beschränkten Tellerrand hinausblicken. Die Vielfalt menschlichen Lebens ist nämlich grenzenlos.

[Pierre Clastres](https://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Clastres), schreibt Wagner, hat einen “wichtigen frühen Beitrag zur heute erst richtig in Fahrt gekommenen Debatte um die [Dekolonisierung des politischen Denkens](https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/postkolonialismus-und-globalgeschichte/240817/intellektuelle-dekolonisation)” geleistet. Er forderte nämlich in seinem 1974 veröffentlichten Hauptwerk La Société contre l’État (Die Gesellschaft gegen den Staat), so Wagner, nichts weniger als eine „kopernikanische Revolution“: Statt „die primitiven Kulturen um die abendländische Zivilisation“ kreisen zu lassen, forderte er, diese aus sich selbst heraus zu verstehen.

Das ist natürlich eine klassisch ethnologische Position, doch auch in seiner Disziplin sah Clastres einen Ethnozentrismus. Er kritisierte vor allem Theorien, denen zufolge der Staat die krönende Schöpfung jeder Gesellschaft ist. Gesellschaften ohne Staat sind, so Clastres, nicht unterentwickelt oder “primitiv”.

Seine Thesen basieren u.a. auf seine eigenen Feldforschungen bei den Guayaki und Guarani in Paraguay und Brasilien.

Zwang und Unterwerfung bilden Clastres zufolge keineswegs „überall und immer das Wesen der politischen Macht “. Das politisches Handeln vieler Bevölkerungsgruppen in Nord- und Südamerika ziele darauf ab, die Konzentration von Macht in einer Hand so effektiv zu blockieren, dass so etwas wie ein Staat erst gar nicht entstehen konnte.

Die Bedeutung der “Häuptlinge” hätten viele Europäer ihm zufolge überschätzt. Wagner schreibt:

> Selbst jene herausgehobenen Personen, von denen die Europäer dachten, sie verfügten über so etwas wie Kommandogewalt, die sogenannten Häuptlinge, waren nicht in der Lage, ihre vermeintlich Untergebenen zu irgendetwas zu zwingen. (…) „Fast immer wendet sich der Anführer täglich bei Morgengrauen oder in der Abenddämmerung an die Gruppe. In seiner Hängematte liegend oder neben seinem Feuer sitzend, spricht er laut die erwartete Rede. Und gewiss muss seine Stimme kräftig sein, um sich vernehmbar zu machen. Denn es herrscht keinerlei Andacht, wenn der Häuptling spricht, keine Stille, jeder fährt in aller Ruhe fort, seinen Beschäftigungen nachzugehen, als ob nichts geschähe.“

Dieses Fehlen einer zentralen Macht hat auch Einfluss auf das Bild von Arbeit. Nicht alle Menschen leben in erster Linie, um zu arbeiten, wenn sie nicht dazu gezwungen werden.

>Die ersten europäischen Beobachter stellten unter großer Missbilligung fest, „dass gesunde Burschen sich lieber wie Weiber anmalten und mit Federn schmückten, als in ihren Gärten zu schwitzen. Leute also, die entschieden nicht wussten, dass man sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen muss.“
>(…)
> Anders als vielfach angenommen, seien sie nicht etwa nicht dazu in der Lage gewesen, einen ökonomischen Überschuss zu erzielen, sondern legten überhaupt keinen Wert darauf, mehr zu produzieren, als sie benötigten.

Thomas Wagner merkt jedoch an, dass Clastres’ Überlegungen zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern in staatslosen Gesellschaften nicht überzeugen können.

[>> zum Text auf freitag.de: Heimlicher Klassiker](https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/heimlicher-klassiker)

Ansonsten wird Clastres oft vorgeworfen, dass er zu sehr romantisiere, staatenlose Gesellschaften darstelle als friedlich und konfliktfrei, die Gegensätze zwischen den staatslosen Gesellschaften und der sogenannten westlichen Welt übertreibe, siehe unter anderem weitere Besprechungen auf [goodreads.com](https://www.goodreads.com/book/show/990828.Society_Against_the_State) sowie von [Marc Purcell von der University of Washington](http://faculty.washington.edu/mpurcell/clastres.pdf) und [Stephen Machan auf Thoughts Explained](http://themoralskeptic.blogspot.com/2017/11/book-summary-society-against-state-by.html).

Das Buch kann man in seiner älteren deutschen Ausgabe vom [Mois-Blog](https://www.euse.de/wp/blog/2008/09/pierre-clastres-staatsfeinde/) herunterladen. Die englische Ausgabe gibt es bei [archive.org](https://archive.org/details/ClastresSocietyAgainstTheStateEssaysInPoliticalAnthropology/mode/2up). Die Neu-Ausgabe kann man bei der [Konstanz University Press](https://www.k-up.de/9783835391215-staatsfeinde.html) bestellen.

**SIEHE AUCH:**

[“Leben wie in der Steinzeit” – So verbreiten Ethnologen Vorurteile](https://www.antropologi.info/blog/ethnologie/2005/leben_wie_in_der_steinzeit_so_verbreiten)

[“Leben doch nicht im Einklang mit der Natur”](https://www.antropologi.info/blog/ethnologie/2011/edler-wilde)

[Anthropologists condemn the use of terms of “stone age” and “primitive”](https://www.antropologi.info/blog/anthropology/2007/anthropologists_condemn_the_use_of_terms)

Im Blatt Freitag stellt Thomas Wagner einen Klassiker der Ethnologie umd Sozialanthropologie vor, der jetzt zum ersten Mal seit 1976 in einer Neuauflage wieder verfügbar ist: Staatsfeinde von Pierre Clastres.

Einer der wichtigsten Aufgaben unseres Faches ist es zu zeigen,…

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“Leben doch nicht im Einklang mit der Natur”

(via ethno::log) Die Süddeutsche räumt in einem längeren Artikel mit dem “Märchen über den edlen Wilden ab”.

“Die Ureinwohner Amerikas gelten als Menschen, die im Einklang mit der Natur lebten. Doch das war keineswegs der Fall. Mitunter zerstörten sie sogar ihre eigene Lebensgrundlage”, schreibt Sebastian Herrmann, der eine grosse Menge an Quellen zusammengetragen hat, u.a. auch Artikel in Ethnologiezeitschriften.

Diese Klischees sind weit verbreitet, teils auch innerhalb des Faches Ethnologie. Die Klischees sagen mehr aus über die Sehnsüchte der Europäer als über die Indianergesellschaften. Doch es stimmt natürlich auch, und darauf wird im SZ-Artikel auch hingewiesen, die grössten Schäden an der Umwelt richten selbstverständlich die Industriestaaten an. Diverse Ureinwohnergruppen benutzen diese Klischees in ihrem Kampf um Anerkennung.

>> weiter in der SZ

SIEHE AUCH:

Die faz träumt von edlen Wilden

Romantisierungen am “Internationalen Tag der indigenen Völker”

“Wie findet man Naturvölker?”

Die zweifelhalften Kampagnen von Survival International

Ethnologen kritisieren Berichterstattung über “isolierte Urwaldvölker”

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“Untouched” Amazone hosted large cities

(via ethno::log) Die Süddeutsche räumt in einem längeren Artikel mit dem "Märchen über den edlen Wilden ab".

"Die Ureinwohner Amerikas gelten als Menschen, die im Einklang mit der Natur lebten. Doch das war keineswegs der Fall. Mitunter zerstörten sie sogar…

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Umstrittener “Sitting Bull” im Bremer Überseemuseum

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„Eine solche Ausstellung wäre in den USA schwer vorstellbar“, sagt Ethnologe Christian Feest. Nicht jedoch in Bremen. Im Übersee-Museum ist bis zum 3.5.09 eine Ausstellung über das Leben eines der bekanntesten Indianer zu sehen – Sitting Bull. Zivilisationskritiker erkoren ihn zur Ikone. Doch unter den Lakota-Sioux war er isoliert; seine kompromisslose Haltung gegenueber den Weissen ist bis heute in den USA umstritten.

Christian F. Feest, Direktor des Museums für Völkerkunde Wien, konzipierte die Ausstellung im Auftrag des Kunsthistorischen Museums Wien. „Sitting Bull und seine Welt“ feiert Premiere in Bremen, bevor die Ausstellung nach Finnland und Österreich weiterreist.

>> weiter in der WAZ

>> Webseite der Ausstellung

“Eine große und ziemlich grandiose Ausstellung”, schreibt die Welt, die auch mehrere weiterfuehrende Links gesammelt hat.

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„Eine solche Ausstellung wäre in den USA schwer vorstellbar“, sagt Ethnologe Christian Feest. Nicht jedoch in Bremen. Im Übersee-Museum ist bis zum 3.5.09 eine Ausstellung über das Leben eines der bekanntesten Indianer zu sehen - Sitting Bull. Zivilisationskritiker erkoren ihn…

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Die Zeit über moderne Ethnologie

Während einer Reise zu den Nambikwara in Brasilien denkt ZEIT-Autor Bartholomäus Grill über das Wesen unseres Fachs nach. Warum benutzen Ethnologen weiterhin Begriffe wie Volk, indigene Völker und Ethnie, obwohl sie so schwammig sind? Gibt es den edlen Wilden? Was ist moderne Ethnologie?

Grill stellt gute Fragen, schreibt jedoch undifferenziert über Indianer als Verlierer. Und er irrt sich, wenn er schreibt, dass der “Gegenstand der modernen Ethnologie” “die Ethnie” sei. Das war einmal.

>> zum Bericht in der ZEIT “Wir Eingeborenen”

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Was ist Ethnologie? Eine schöne Definition

Ethnologie-Einführungen und die Sonderstellung der deutschen Ethnologie

Ainu in Japan: Cool to be indigenous

Indigenous people no victims of globalisation: Alex Golubs dissertation on mining and indigenous people

Während einer Reise zu den Nambikwara in Brasilien denkt ZEIT-Autor Bartholomäus Grill über das Wesen unseres Fachs nach. Warum benutzen Ethnologen weiterhin Begriffe wie Volk, indigene Völker und Ethnie, obwohl sie so schwammig sind? Gibt es den edlen Wilden? Was…

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Journal Ethnologie: “Tribal Colleges”, Nunavut, Indianer-Tourismus und heimliche Gesänge

Journal Ethnologie macht keine Sommerpause. Die vierte Ausgabe dieses Jahres ist im Netz und handelt von Indianern und Inuit in Nordamerika.

Sehr spannend ist der Text von Anne Grob. Tribal Colleges. Indianisch geführte Universitäten als Symbole von Hoffnung und Stolz heisst er und basiert auf ihrer Magisterarbeit. Trotz ihrer Bedeutung für indianische Gemeinschaften seien diese Hochschulen, die teils auch Magisterabschluesse anbieten, kaum bekannt, lesen wir.

Ein Großteil der Tribal Colleges befindet sich weitab von Städten und in der Nähe von Reservationen. Sie bieten Leuten eine Hochschulausbildung, die für viele sonst nur schwer zu erreichen wäre. Die Autorin zitiert einen Experten, der die Entstehung von Tribal Colleges als “die wichtigste Entwicklung innerhalb indianischer Gemeinschaften seit dem Zweiten Weltkrieg” bezeichnet.

Obwohl sie allen offenstehen, sind die meisten Studenten “Native Americans”. Das Lehrpersonal besteht jedoch hauptsächlich als nichtindianischen Personen. Doch der Anteil an indianischen Dozenten nimmt zu, schreibt Anne Grob

>> zum Text in Journal Ethnologie

Sehr interessant ist auch der Text Navajo Zeremoniallieder der 1930er-Jahre zwischen dynamischer Tradition, Kulturerbepolitik und Political Correctness von Rainer Hatoum. Eine 1300 Wachswalzen umfassende Sammlung von Heilgesängen, die im Berliner Phonogramm-Archiv aufbewahrt wird, soll den Navajo wieder zur Verfügung gestellt werden. Wie wäre es z.B. mit einer CD mit diesen Gesängen? Doch längst nicht alle Navajo sind von dieser Idee begeistert:

Weite Teile der Klah-Sammlung wurden aus „Navajo-Perspektive“ nicht nur im Hinblick auf ihre Nutzbarkeit als „wertlos“ betrachtet, sondern von einer Reihe von Gesprächspartnern als geradezu „gefährlich“.
(…)
Für strenggläubige Navajo handelt es sich bei den Klah-Aufnahmen um ein Gut, das überhaupt nicht existieren dürfte und mit dem man in dieser vollkommen unkontrollierten Form nichts zu tun haben möchte. Für diese Gruppe von Gesprächspartnern ist „Wissen“ im wahrsten Sinne des Wortes „Macht“.

>> zum Text in Journal Ethnologie

Torsten Diesel war auf Feldforschung in Iqaluit, der Hauptstadt Nunavuts. Im Text Nation Building in Nunavut. Kulturelle Identität und politische Symbolik erfahren wir, dass Nation Building der politischen Elite Nunavuts “monokulturell” ausgerichtet ist mit nur wenigen “multiethnischen Ansätzen”.

Indianerreservationen werden als Reiseziele immer wichtiger. Davon berichtet Markus H. Lindner im Artikel Indianer-Tourismus in Nordamerika. Chance und Gefahr

Der Text von Susanne Jauernig gibt uns einen Einblick in die Keramiktradition in Zuni, New Mexico/USA

Journal Ethnologie macht keine Sommerpause. Die vierte Ausgabe dieses Jahres ist im Netz und handelt von Indianern und Inuit in Nordamerika.

Sehr spannend ist der Text von Anne Grob. Tribal Colleges. Indianisch geführte Universitäten als Symbole von Hoffnung und Stolz…

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