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Ethnologe holt Bungeespringer aus der Südsee ins Museum

Unsere Vorstellungen über “die anderen” stammen zu einem Grossteil von den Medien. Wer will, dass diese Bilder “ethnologischer” werden, muss sich selber aktiv in den Prozess der Kulturproduktion einmischen, meint Ethnologe Thorolf Lipp, der soeben Pläne fuer eine neue Südsee-Ausstellung vorstellt hat.

Fünf Bewohner von Bunlap, einem kleinen Dorf der Sa auf der Pazifikinsel Pentecost, werden nach München kommen, um Vorurteile über die Südsee herauszufordern. Bekannt geworden sind die Sa als Erfinder des “Bungee-Turmspringens”, das sie seit vielen hundert Jahren praktizieren.

Ethnologe Thorolf Lipp ist Mitglied im “Forum deutsch-pazifischer Begegnungen“:

Seit jeher dienen uns die pazifischen Inseln als ferner Spiegel für unsere eigenen Sehnsüchte nach einem paradiesischen Leben. Dabei machen wir ihre Bewohner nicht selten zu exotischen Statisten und verklären ihre tatsächliche Lebenswirklichkeit. Vorurteile und kulturelle Mißverständnisse sind hier nachhaltiger als anderswo entstanden.

Das “Forum deutsch-pazifischer Begegnungen e.V.” hat sich zum Ziel gesetzt, durch interkulturelle Begegnungen und Austausch zwischen den Völkern gegenseitiges Verständnis jenseits gängiger Südsee-Klischees zu befördern.

UrSprung in der Südsee. Begegnung mit den Turmspringern von Pentecost ist das erste grosse Vorhaben des Vereins. Das Resultat wird im Sommer 2009 im Museum für Völkerkunde München zu sehen sein.

In der Beschreibung des Ausstellungskonzeptes lesen wir:

Die Ausstellung will vermitteln, daß die Kastom Männer, Frauen und Kinder von Bunlap nicht die „letzten Wilden“ sind. Vielmehr wollen wir sie als Vertreter einer überaus lebendigen Kultur vorstellen, in der Tradition, Adaption und Vision eine selbstbewußte und kreative Synthese ergeben.
(…)
Die Sa haben vor vielen hundert Jahren das Turmspringen erfunden, den Vorgänger des heutigen Bungeespringens. Erstaunlich ist, dass die Sa bis heute an den Eckpfeilern ihrer traditionellen Kultur hartnäckig festhalten. Sie tragen Penisbinde und Grassrock, pflegen ihre Überlieferungen und lehnen Kirchen und Schulen ab. Dennoch befindet sich die Kultur der Sa keineswegs im Stillstand, sondern wird beständig kreativ und behutsam weiterentwickelt – vielfach gegen die Trends einer globalisierten Welt.

Zusammen mit Partnern aus Vanuatu gestalten die Ausstellungsmacher eine virtuelle Reise von München in das Dorf Bunlap. Zusätzlich zu den Ausstellungsräumen im Museum wird auf dessen Vorplatz ein künstlicher Sandstrand als Ort der Begegnung in das Ausstellungskonzept integriert. Auf einem Teil des Strandes bauen einige Gäste aus Bunlap einen etwa 20 Meter hohen nanggol, einen traditionellen „Bungee“ Sprungturm aus Holz und Rindenstreifen.

Thorolf Lipp hat uebrigens eine schoene und informative Webseite. Dort erfahren wir, dass er seine Dissertation ueber diese Turmspringer geschrieben hat, die man sogar als pdf herunterladen kann

Auf

kann man sich das Turmspringen, an dem sich auch Kinder beteiligen, näher anschauen:

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Erforschte das Leben illegalisierter Migranten

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Rund 100 000 Migranten leben ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Wer sind diese “Sans-Papiers”? Wie überleben sie im Schatten der Gesellschaft? Diese Fragen untersucht Raphael Strauss in seiner Lizenziatsarbeit am Institut für Sozialanthropologie der Uni Bern.

In der Arbeit, die nun liegt nun als Arbeitsblatt 44 des Instituts vorliegt, hat der Ethnologe elf Migranten im Alter zwischen 22 und 47 Jahren, interviewt. Seine Informanten kommen aus Polen, Kolumbien, Kamerun, Mazedonien, Nigeria und Algerien.

Raphael Strauss hatte sich selber für die Sans-Papier-Bewegung in der Schweiz engagiert und arbeitete zudem in einem Durchgangszentrum für Asylbewerber. Kontakte aus dieser Arbeit waren ihm sehr hilfreich, denn über Menschen zu forschen, die sich ständig versteckt halten müssen um nicht “ausgeschafft” zu werden, ist nicht gerade einfach.

“Sans-Papiers” werden von Politikern und Journalisten oft als “illegale Einwanderer” bezeichnet. Der Ethnologe weigert sich, die Terminologie zu übernehmen, denn “kein Mensch ist illegal”. Er bezeichnet sie als “illegalisierte Migranten”:

Durch die konsequente Verwendung des Adjektivs «illegalisiert» soll auf der einen Seite darauf aufmerksam gemacht werden, dass der irreguläre Aufenthalt unter Umständen rein durch Gesetzesänderungen verursacht worden sein kann, auf der anderen Seite soll deutlich gemacht werden, dass die Bezeichnung der Illegalität – auf Menschen angewendet – ein politisches Konstrukt ist, da Illegalität als Solche die Ungesetzlichkeit und Abwesenheit von Rechten beinhaltet.

Lediglich der Aufenthaltsstatus eines Menschen kann ungesetzlich sein, nicht jedoch der Mensch selbst.
(…)
Ähnlich problematisch sind die Ausdrücke der «illegalen Migration» und des «illegalen Aufenthaltes», da der Begriff der Illegalität oftmals mit kriminellen Praktiken oder Handlungen verbunden wird. Aus diesem Grund werden jeweils die Begriffe «irreguläre Migration» und «irregulärer Aufenthaltsstatus» verwendet, welche sich auch im politischen und wissenschaftlichen Bereich international durchgesetzt haben.

In der Arbeit werden wir mit einer Vielfalt von Schicksalen bekannt. Darunter befinden sich abgelehnte Asylbewerber genauso wie eine gelernte Hebamme aus Polen, die in der Schweiz arbeiten gehen wollte und nun bei Privatpersonen Wohnungen putzt und aeltere Leute pflegt.

Vielen geht es sicherlich wie «Claudine» aus Kamerun:

Claudine ist ursprünglich aus Kamerun und besuchte in Frankreich die Universität, wo sie einen Schweizer kennen lernte, sich in ihn verliebte und mit ihm in die Schweiz kam.

Als französische Studentin lebte sie die ersten drei Monate mit einem Touristenvisum hier, anschliessend wäre die Heirat mit ihrem Freund geplant gewesen, doch die Beziehung stellte sich als Fehlschlag heraus, ihr Freund verliess sie und Claudine blieb alleine in der Schweiz zurück.

Ihr Visum war abgelaufen, ebenso die Verlängerungsfrist für die Universität in Frankreich, weshalb sie fortan ohne Aufenthaltsbewilligung hier lebte.(…) Da sich Claudine aufgrund ihres Wegzuges mit dem Schweizer Freund auch mit ihrer Familie zerstritten hatte, konnte sie nicht zurück, weshalb sie beschloss, trotz allem in der Schweiz zu bleiben.

In Kapitel 6 über Lebensrealität illegalisierter Migranten schreibt er zum Thema Integration:

Ihr Leben ist also geprägt durch den Versuch, möglichst unauffällig zu bleiben, sich nicht unnötig an öffentlichen Plätzen aufzuhalten, möglichst alle Kontakte mit Behörden zu vermeiden und nur äusserst vorsichtig soziale Kontakte zu knüpfen. Diese durch die rechtliche Situation erzwungenen Umstände behindern viele integrationsfördernde Aktivitäten.

Dem gegenüber steht allerdings die Tatsache, dass unzählige Sans-Papiers dies sehr gut meistern, ihr Leben ohne Aufenthaltsbewilligung führen können und sich bei ausserordentlichen Ereignissen zu helfen wissen. Ein derartiges Leben zu führen, ohne aufzufallen, deutet wiederum auf eine sehr gute Integration hin.

Zum Thema Finanzen:

Die Reduzierung der persönlichen Ansprüche auf das Notwendigste wird von den meisten InterviewpartnerInnen implizit praktiziert, Barry beispielsweise gibt sich mit einer Mahlzeit am Tag zufrieden (wenn möglich) und vergleicht die Situation auch mit seinem Heimatland, woher er es gewohnt sei, teilweise einen Tag lang nichts zu essen.

Zu Gesundheit / Psyche:

Viele der befragten erwerbslosen Sans-Papiers empfinden ihr Leben unter diesen Umständen als ein nicht menschenwürdiges Dasein, oder wie es David ausdrückt, als «somewhere in between life and death».

Bei einigen geht die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit gar bis zu Selbstmordgedanken, da kein Sinn im eigenen Leben erkannt werden kann. Über die Hälfte der InterviewpartnerInnen berichten zudem über konkrete gesundheitliche Auswirkungen, indem sie unter Schlaflosigkeit, Schlafstörungen oder Alpträumen litten.

Die wenigsten Schwierigkeiten haben sie um Umgang mit dem Gesundheitswesen (es gibt u.a. einige hilfreiche Aerzte) und in der Schule. “Die Einschulung von Sans- Papiers-Kindern ist seit längerer Zeit gängige Praxis und der Datenschutz im Normalfall problemlos gewährleistet”, schreibt der Ethnologe.

>> Download der Arbeit “Sans-Papiers: Lebensrealität und Handlungsstrategien. Eine deskriptive Studie illegalisierter MigrantInnen in der Region Bern” von Raphael Strauss

Bei andersdeutsch gibt es regelmässig Infos zum Thema, siehe u.a. die Beiträge Aus der Festung Europa und Illegalisierte kochen.

Swissinfo schreibt von einem Kampf gegen “Eheverbot” für Sans-Papiers und Solidarité sans frontières informiert über die Woche der MigrantInnen, die nächste Woche in der ganzen Schweiz stattfindet.

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Rund 100 000 Migranten leben ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Wer sind diese "Sans-Papiers"? Wie überleben sie im Schatten der Gesellschaft? Diese Fragen untersucht Raphael Strauss in seiner Lizenziatsarbeit am Institut für Sozialanthropologie der Uni Bern.

In der Arbeit,…

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Kritisiert ethnologische “Stammesforschung”

umschlag

Ethnologe Markus Schleiter scheint eine interessante Dissertation geschrieben haben, die sich kritisch damit auseinandersetzt wie Ethnologen ihnen fremde Gesellschaften beschreiben.

In “Die Birhor- Ethnographie und die Folgen. Ein indischer ,Stamm’ im Spiegel kolonialer und postkolonialer Beschreibungen” geht es besonders um den Begriff “Stamm”, erfahren wir in der Buchbesprechung von Melitta Waligora auf suedasien.info.

Der Begriff “Stamm” (oder “tribe”auf Englisch) ist umstritten, weil er oft negative Assotiationen weckt wie “Rückständigkeit”. Die Begriffe “Stamm” und “Kaste” wurden in Indien im 18. und 19. Jahrhundert oft synonym verwendet.

Die ethnographische Konstruktion der „Stämme“ mit den jeweiligen Zuschreibungen wie primitiv, isoliert, rückständig, gefährdet erfolgte erst ab der Mitte des 19. Jh., gleichlaufend mit dem Begriff der „Kaste“.

Mit beiden Begriffen sollte fortan jeweils etwas anderes beschrieben werden, ohne dass es dafür eine hinreichende Grundlage gab. So konnte es passieren, dass ein und dieselbe Gemeinschaft in einem Gebiet als primitiver Stamm, in einem anderen als niedrige Kaste und wieder woanders als herrschende Schicht klassifiziert wurde.

Diese koloniale Einteilung, so der Ethnologe, wurde sehr bald von den nationalen Akteuren übernommen. Bis heute findet sie sich in der Entwicklungshilfeideologie “als Paternalismus gegenüber den subalternen, so ganz anders gearteten und hilfebedürftigen Stämmen wieder”.

Melitta Waligora schreibt:

So kann der Autor in seinem Resümee nahezu zynisch formulieren, dass die Birhor und deren postulierte Gefährdung eine notwendige Existenzberechtigung für eine Armada von Entwicklungsadministratoren wie Forschern bieten, deren Interesse an einer realen Verbesserung auch der ökonomischen Situation der Birhor demzufolge nur gering ist.

>> weiter bei suedasien.info

Von Markus Schleiter gibt es kaum etwas im Netz. Auf journal-ethnologie.de hat er zumindest den Text “Zum Tanze”. Eine ethnographische Erzählung über den indischen „Stamm“ der Birhor veröffentlicht

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umschlag

Ethnologe Markus Schleiter scheint eine interessante Dissertation geschrieben haben, die sich kritisch damit auseinandersetzt wie Ethnologen ihnen fremde Gesellschaften beschreiben.

In "Die Birhor- Ethnographie und die Folgen. Ein indischer ,Stamm’ im Spiegel kolonialer und postkolonialer Beschreibungen" geht es besonders um…

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Australiens “gestohlene Kinder” – Eine anthropologische Auseinandersetzung

Stefan Haderer von der Uni Wien hat mir einen Essay geschickt, der auf seiner Diplomarbeit über Australiens rassisistischer Politik gegenüber Aboriginees basiert. Er schreibt über Australiens “gestohlene Kinder” – Kinder mit einem Aborigines- und einem europäischen Elternteil, die vor der Pubertät zwangshaft von ihren Eltern entfernt werden sollten, um in Weißen Institutionen bis zu ihrer Unmündigkeit (mit 21 Jahren) „zivilisiert“ zu werden. Haderer wirft auch einen kritischen Blick auf die Rolle unseres Faches.
In einem “richtungweisenden Urteil” hat soeben ein australisches Gericht einem Ureinwohner Schadensersatz für die Zwangstrennung von seiner Mutter zugesprochen.

Australiens “gestohlene Kinder” – Eine anthropologische Auseinandersetzung mit der Stolen Generation
von Stefan Haderer

Einleitung

Im folgenden Essay nehme ich Bezug auf meine Diplomarbeit „Forced to be ‘civilized’ – Australia’s Stolen Generation in the Light of 20th Century Assimilation Policies” (2007), welche ich am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien geschrieben habe. Die Arbeit wird voraussichtlich im Januar 2008 allen Studierenden und Interessenten zugänglich sein. Sie basiert auf einer ethnohistorischen Forschungsmethode mit einem diskursiv-analytischen Ansatz.

Während meines Auslandsstudiums an der University of Sydney in Sydney (Juli bis November 2006) konnte ich eine Forschung vor Ort durchführen. Schriftliche Quellen, welche unter anderem auch die Interviews zahlreicher betroffener Aborigines-Männer und –Frauen beinhalten, dienten mir als Vorlage meiner Arbeit. Ebenfalls hatte ich die Erlaubnis, in australischen Staatsarchiven, welche der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, zu forschen.

Ein zentraler Ansatz für meine Arbeit war, so viele verschiedene Stimmen und Aussagen wie möglich darzustellen und die kontroversen Ansichten im Licht der Wissenschaft möglichst objektiv zu kontrastieren.

Inhalt

Meine Forschung nimmt direkten Bezug auf die Stolen Generation, die heute noch ein politisches Thema in der Politik Australiens darstellt, da sich leider PolitikerInnen weigern, die Realität des Genozids an Aborigines-Kindern anzuerkennen und sich dafür offiziell zu entschuldigen. Was aber versteht man genau unter Stolen Generation?

Im Rahmen des australisch-kolonialen Protektionssystems, welches vorsah, Aborigines als „sterbende Rasse“ zu retten und ihnen deshalb Reservate zuteilte, entstand zunehmend die Forderung nach einer Assimilationspolitik. Diese basierte nach wie vor auf sozialdarwinistischen und sozioevolutionistischen Theorien, welche die europäischen Einwanderer als „höhere weiße Rasse“ darstellten. Die Mehrheit der australischen Bevölkerung nahm diese Ansicht unhinterfragt an und schaffte somit mittels Medien, Wissenschaft und Medizin einen Diskurs, der das Leben der Aborigines und ihrer Kinder wesentlich beeinflussen sollte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde zunehmend das „half-caste problem“ thematisiert. „Half-caste“ ist ein sozialdarwinistischer Begriff für sogenannte „Mischlingskinder“, d.h. Kinder mit einem Aborigines- und einem europäischen Elternteil. Diese Kinder wurden von angesehenen AnthropologInnen (z.B. A.P. Elkin) und WissenschaftlerInnen dieser Zeit als „rückständig“, „kulturlos“ (weil zwischen zwei Kulturen) und „unzivilisiert“ bezeichnet. Größtenteils waren es Kinder, die Opfer von Vergewaltigungen waren, welche fast täglich neben anderen Gewaltakten auf Reservaten durch Weiße Manager und Aufseher stattfanden.

Bis in die 1930er Jahre hatte die „half-caste“-Bevölkerung stark zugenommen – eine Entwicklung, die die Weiße Regierung Australiens mit Besorgnis beobachtete. Physische Anthropologen wie Cecil E. Cook und Gouverneure wie A.O. Neville und Paul Hasluck fürchteten den „Untergang der weißen Rasse“ und eine – in ihren Augen schädliche – „Vermischung der Rassen“, wie sie auch in Nazi-Deutschland zur gleichen Zeit angedroht wurde.

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In der Commonwealth State Conference, welche 1937 in Canberra unter ausnahmslos Weißen Regierungsvertretern, Gouverneuren und Akademikern abgehalten wurde, wurde schließlich gesetzlich über das Schicksal jener „half-caste“-Kinder entschieden. A.O. Neville sah eine Lösung, indem diese Kinder vor der Pubertät zwangshaft von ihren Eltern entfernt werden sollten, um in Weißen Institutionen (Erziehungsanstallten, Wohlfahrtseinrichtungen und bei Weißen Pflegefamilien) bis zu ihrer Unmündigkeit (mit 21 Jahren) „zivilisiert“ zu werden.

Dieses Programm basierte auf der Annahme einer biologischen und kulturellen Assimilation: Aboriginality sollte den Kindern „ausgetrieben“ werden, sodass in den kommenden Generationen das „half-caste problem“ nicht mehr bestünde. So sollten die dunklere Hautfarbe, die Bindung zu Land, Vorfahren und spirituellem Wissen und die indigene Muttersprache komplett eliminiert und der „weißen christlichen Norm“ angepasst werden.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Welfare Board gegründet, welches die komplette Vollmacht über Aborigines-Kinder mit hellerer Hautfarbe erhielt. Die Elternteile und Verwandten auf Reservaten wurden als „unzurechnungsfähig“ angesehen, ihre Kinder als „vernachlässigt“ (neglected). Szenen wie die gewaltsame Trennung der Kinder von ihrer Mutter in Philip Noyce’s preisgekröntem Film Rabbit-Proof Fence (2002) waren leider grausame Realität und betrafen fast jedes 3. bis 5. Kind (vgl. Healey 1998). Schätzungen von ENIAR (European Network for Indigenous Australian Rights) setzen die Zahl der entfernten Kinder auf ca. 100.000.

Nach der gewaltsamen Trennung erwartete die Kinder ein Leben in einer Welt voll psychischer und physischer Grausamkeit. Dr. Paul Read, der Begründer einer der ersten Organisationen namens Link-Up, die auf die Stolen Generation in den 1980ern aufmerksam machte und Augenzeugenberichte in ganz Australien sammelte, schätzt, dass in Institutionen jedes zehnte und in Pflegefamilien jedes fünfte Kind ein Vergewaltigungsopfer war.

Trotz internationaler Einsprüche seitens Amnesty International und der Vereinten Nationen, die als „linke Propaganda“ abgetan wurden, setzte Australien die rassistische Politik des Kindesentzugs bis 1969 fort. Die Bevölkerung war vom kollektiven und positiven Nutzen des „Wohlfahrtssystems“ fest überzeugt. Gewalt und Leid, aussichtslose Zukunftsperspektiven und Akkulturation wurden absichtlich übersehen.

Das Magazin Dawn zeigte der Öffentlichkeit lachende Gesichter von weiß gekleideten, frommen Aborigines-Kindern in Heimen wie Kinchela und Cootamundra und setzte fröhliche Leitartikel darunter, um sie vom guten Zweck der Politik zu überzeugen. Verschwiegen wurde, dass das Lächeln der Kinder aufgesetzt war, dass sie selbst im Winter keine Schuhe bekamen und hungern mussten, wenn sie ihre handwerklichen Arbeiten nicht vor Tagesanbruch beendet oder ein Fahrrad „illegal“ benutzt hatten.

Nachdem die Kinder von ihrer Unmündigkeit befreit waren, durften sie als freie Menschen ins gesellschaftliche Leben. Sie galten zwar als „zivilisiert“, doch erwartete sie ein harter Kampf. Nur in den untersten Berufen, wie etwa als work boys, farmhands und Hausbedienstete konnten sie eine Anstellung finden, da das soziale Netz nach wie vor keinen Aufstieg für Aborigines vorsah – auch nicht, wenn sie als „zivilisiert“ galten. Das Geld, das ihnen eigentlich vom Welfare Board nach Vollendung des 21. Lebensjahres zustehen sollte, wurde den Kindern meist nicht ausgehändigt oder verheimlicht.

Aufgrund der physischen und psychischen Traumata, welche die Stolen Generation nach wie vor nicht verarbeiten konnte, wurden viele der Kinder obdachlos, Alkoholiker, drogenabhängig, suizidgefährdet oder gewalttätig gegen ihre eigene Familie.

Seit den 1980ern hat sich die Situation in Australien nicht wesentlich geändert. Die Stolen Generation ist kein Mythos der Vergangenheit, eine Sünde der Vorväter, über die man besser schweigen und in die Zukunft blicken soll – wie es sich Australiens Premier John Howard und zahlreiche anderen PolitikerInnen wünschen. Sie ist noch heute präsent – auf den Straßen in den Städten Australiens, in den Gefängnissen, in den Jugendschutzheimen, wo Aborigines-Kinder nach wie vor noch die größte Zahl einnehmen, aber auch in Statistiken, in denen Aborigines die höchste Selbstmordrate der Welt aufweisen.

Die Anregungen und Wünsche jener Menschen, die von der rassistischen Assimilationspolitik betroffen waren, ist lang. Viele von ihnen konnten – mit Hilfe von Link-Up und psychologischer Aufarbeitung der Vergangenheit – ein neues Leben beginnen. Viele von ihnen drücken ihre Träume und Ängste kreativ aus – als KünstlerInnen, SängerInnen oder in Form von Gedichten. Andere sind politisch engagiert und setzen sich aktiv für indigene Rechte ein, die nach wie vor in der australischen Weißen Gesellschaft wenig Anklang finden.

Die Stolen Generation ist somit ein wesentlicher Ansatzpunkt in der Auseinandersetzung mit Rassismus. Eine wissenschaftliche anthropologische Analyse kann dazu beitragen, die Gesellschaft aufzuklären, Zusammenhänge besser zu begreifen und Zukunftsperspektiven darzustellen.

Quellenangaben

ENIAR European Network for Indigenous Australian Rights. www.eniar.org/stolengenerations.html

HEALEY, Kaye. 1998. The Stolen Generation. Issues in Society Vol. 91. Balmain:The Spinney Press.

VILLELLA, Fiona A. March 2006. “Long Road Home: Philip Noyce’s ‘Rabbit-Proof Fence’”

http://www.sensesofcinema.com/contents/01/19/rabbit.html

Stefan Haderer, Student der Kultur- und Sozialanthropologie. Kontakt: ath_steph_3000 (at) hotmail.com

Stefan Haderer von der Uni Wien hat mir einen Essay geschickt, der auf seiner Diplomarbeit über Australiens rassisistischer Politik gegenüber Aboriginees basiert. Er schreibt über Australiens "gestohlene Kinder" - Kinder mit einem Aborigines- und einem europäischen Elternteil, die vor der…

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Neue Arbeit im Volltext: Mundartrap zwischen Lokalpatriotismus und Globalisierung

Wie Globalisierung zu einer Stärkung von lokalen Identitäten führen kann, zeigt Pascale Hofmeier in ihren Arbeiten “New York im WB-Tal. Lokale Entwicklung der globalen HipHop-Kultur” und “Identitätskonstruktionen im Schweizerdeutschen Mundartrap. Lokalpatriotische Wohlstandshiphopper?” Hofmeier war “beobachtende Teilnehmerin” sowohl auf diversen HipHop-Events wie auch in Internetforen. Es sind vermutlich die ersten Forschungsarbeiten über Mundartrap.

Die Kulturwissenschaftlerin räumt auf mit dem Vorurteil, HipHop sei eine der wenigen Ausdrucksmittel vernachlässigter jugendlicher Ausländer. Doch die Szene hat sich professionalisiert. Die Ältesten haben bereits graue Haare, alle gesellschaftliche Schichten sind Teil des HipHop-Kosmos, und auch auf dem Land haben sich Szenen gebildet.

In der Schweiz boomt der Mundartrap. Die meisten Rapper sind Schweizer. Für die Rapper auf dem Land ist HipHop eine wichtige Ausdrucksform für ihren Lokalpatriotismus, vielleicht kann man sogar sagen, sie werden durch HipHop zu grösseren Patrioten? Man ist stolz darauf, vom Land zu kommen! Gleichzeitig ist man Teil einer globalen Szene, also alles andere als provinziell. Sie schreibt:

Nicht die Notsituation machte die Jugendlichen kreativ, eher die Langeweile! Statt eine Ghettoromantik zu kopieren, wurden die Probleme der eigenen Herkunft thematisiert, die Kultur produktiv aufgenommen und interpretiert.

MC Poet, Versicherungsangestellter und seit zwei Jahren Vater, erzaehlt ihr:

Es war für uns von Anfang an ein Ziel, dass wir das Waldenburgertal publik machen wollten. Wir wollten wie eine Stadt in der Schweiz bekannt sein. WB-Tal muss einem gleich viel sagen wie Rap aus Zürich, aus Bern, aus Basel.

Die Arbeiten sind auch Studien in Kulturwandel. Die vier Standbeine des HipHop Rap, DJing, Graffiti und Breakdance haben sich getrennt! “Die lokale Subkultur HipHop ist in der Schweiz innerhalb von 10 Jahren einer halb kommerzialisierten Mundartrap Kultur gewichen”, schreibt sie. Die Unterschiede im Vergleich zu meiner fast sechs Jahre alten Arbeit Sein Ding machen. Eine ethnologische Forschung in der Hip-Hop Szene Basels sind offenbar.

Hofmeiers Texte sind spannend und souverän geschrieben, man merkt, dass die Autorin sich auskennt und gründlich recherchiert hat. Sehr schön sind die vielen Originalzitate im Text. Die Interviews im Anhang sind eine faszinierende Lektuere auch im Hinblick auf den Forschungsprozess: “Der Sound auf der anderen Seite wird immer lauter. Das macht mich als Interviewerin total nervös”, erfahren wir zum Beispiel. Es wäre schön wenn alle Forscher so offen wären!

Die Texte sind dann am besten, wenn die Autorin selbst das Wort führt. Ich hätte mir daher einen kritischeren Umgang mit den wissenschaftlichen Quellen erwünscht. Aussagen von anderen Autoren werden meist unkritisch übernommen, leider oft sogar wörtlich. Das führt zu Brüchen, macht den Text plötzlich unleserlich, da in den Cultural Studies ein für Aussenstehende schwer verständlicher Slang benutzt wird. Sätze wie “Identität im virtuellen Raum ist nach Nicola Döring (2003:341) eine „dienst- oder anwendungsspezifische, mehrfach in konsistenter und für andere Menschen wieder erkennbarer Weise verwendete, subjektiv relevante Repräsentation einer Person im Netz” sollten erst in besseres Deutsch übersetzt, in eigene Worte gefasst werden, bevor man sie in einer Arbeit verwendet. Dieses Kleben an den Originalquellen ist ein Grundproblem in vielen Arbeiten, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Alles in allem eine spannende Arbeit, das auch generelle Aussagen zu ethnologischen Standard-Themen Globalisierung und Identität macht!

Beide Arbeiten sind im Volltext im pdf-Format hier auf antropologi.info erhältlich:

Pascale Hofmeier: New York im WB-Tal Lokale Entwicklung der globalen HipHop-Kultur (Seminararbeit, Uni Bern, Januar 2003)

Pascale Hofmeier: Identitätskonstruktionen im Schweizerdeutschen Mundartrap. Lokalpatriotische Wohlstandshiphopper? (Facharbeit, Universität Bern, 20.5.05)

Wie Globalisierung zu einer Stärkung von lokalen Identitäten führen kann, zeigt Pascale Hofmeier in ihren Arbeiten "New York im WB-Tal. Lokale Entwicklung der globalen HipHop-Kultur" und "Identitätskonstruktionen im Schweizerdeutschen Mundartrap. Lokalpatriotische Wohlstandshiphopper?" Hofmeier war "beobachtende Teilnehmerin" sowohl auf…

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