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Die Mythen über angebliche religiöse Gewalt in Kairo

Koptische Christen und Muslime geraten in Kairo tödlich aneinander. So wie diese Schweizer Agenturmeldung tönen die meisten Meldungen in deutschsprachigen und internationalen Medien.

Auch Kulturanthropologe Stefan Haderer reduziert in seinem Gastkommentar in der Wiener Zeitung das Massaker in Kairo auf einen religiösen Konflikt.

Kaum jemand erwähnt, dass das Militär (inklusive Staats-Fernsehen), hinter der Gewalt stand, und vermutlich bezahlte Provokateure wie damals Mubarak benutzte, um Christen und Muslime aufeinander zu hetzen, um so ungestört weiterzuherrschen (“Divide and Rule”). Stattdessen präsentieren deutschsprachige Medien, u.a. die Sueddeutsche den regierenden Militärrat (SCAF) und den Präsidenten als verantwortungsvolle Kräfte, die die Bevölkerung zur Besinnung aufrufen. Dabei gilt SCAF für viele Aktivisten als einer der Hauptfeinde der Revolution.

Kaum jemand erwähnte, dass nicht nur die Christen (Kopten) demonstriert hatten, sondern auch viele Muslime für die Rechte der Christen auf die Strasse gingen und beim Kampf gegen das Militär ihr Leben einsetzten, und vermutlich hat keine Zeitung das Bild des Salafisten, der ein Kreuz trägt, gedruckt und die Demonstranten zitiert, die laut ruften, es drehe sich nicht um ein Religionskonflikt, sondern um ein Militärmassaker und “Christen und Muslime sind eine Hand”.

Ein Blick auf lokale Medien und Blogs gibt ein ganz anderes Bild als die Lektüre internationaler Medien.

Ich habe mehr dazu in meinem Beitrag in Englisch geschrieben The Cairo massacre and How to invent “religious conflicts”.

Koptische Christen und Muslime geraten in Kairo tödlich aneinander. So wie diese Schweizer Agenturmeldung tönen die meisten Meldungen in deutschsprachigen und internationalen Medien.

Auch Kulturanthropologe Stefan Haderer reduziert in seinem Gastkommentar in der Wiener Zeitung das Massaker in Kairo auf…

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Vorurteile über Stämme in Libyen: “Haben nichts mit der Realität zu tun”

Herausforderung für Libyen: Die Stämme, titelt der ZDF. 40 Stämme und Volksgruppen: Zerfällt Libyen in drei Teile? fragt die Bildzeitung besorgt.

Nach dem Fall Gaddafis wird über die Rolle der “Stämme” in Libyen diskutiert. Vieles was wir da über die Stämme zu hören bekommen, hat nichts mit der Realität zu tun, sagt Ethnologe Thomas Hüsken in einem Interview mit der taz. Von den “Spekulationen über einen möglichen Stammeskrieg” hält er nichts:

Die Vorstellung von den Stämmen als miteinander verfeindete, atavistische Gemeinschaften, die mit Blut, Ehre, Scham, Schande verbunden ist, lässt sich vielleicht gut vermarkten. Mit der Realität hat sie nichts zu tun. Die Stammespolitiker sind erfahrene Lokalpolitiker und verfügen über entsprechendes Know-how. Begriffe wie Konsens, Stabilität und Interessenausgleich sind ihnen nicht fremd (…)

Sie haben in den letzten sechs Monaten im Osten für rechtlich Stabilität gesorgt, eine friedliche Ordnung aufrechterhalten und Dienstleistungen wie Strom, Wasser gewährleistet. Das zeigt, dass das tribale System in Libyen funktioniert.

Das Spektrum politischer Ansichten innerhalb der Stämme ist gross:

Es gibt Rechtsanwälte oder Ärzte, die im Ausland waren, die ein ganz anderes politisches Portfolio haben als Politiker, die vor allem der lokalen politischen Gemeinschaft verankert und viel konservativer sind. Aber es ist nicht so, dass zwischen den Stämmen polarisiert wird. So ein Stamm ist kein kollektiver Akteur mit autoritären Kommandostrukturen.

Die Stammespolitiker sind ausserdem nicht gegen den Staat. Was sie wollen ist eine Partnerschaft. Demokratie und Tribalität widersprechen sich nicht.

>> weiter in der taz

Hüsken ist Mitarbeiter im Forschungsprojekt “Die Herausbildung nicht-staatlicher Formen von Herrschaft im heutigen Afrika” an der Uni Bayreuth.

Er ist bereits früher zu Libyen interviewt worden, u.a. im Deutschlandradio

NEU Schöner Kommentar von Ingrid Thurner, Teilnehmende Medienbeobachtung: Medien, Stämme und Stereotype:

Dieses neue Stammesdenken erinnert an die alte Ethnologie, jene Wissenschaft, die zunächst Völkerkunde genannt wurde, und die sich die außereuropäische Welt handlich in Stämme oder Ethnien einteilte.
(…)
Afrikanische Intellektuelle hatten mit dieser Einteilung gar keine Freude. Sie wussten, dass sie zu simpel ist und sozialen Realitäten nicht gerecht wird. Sie lehnten den Biologismus solcher Konstruktionen ab, und sie warfen der Ethnologie Tribalismus vor, den es zu überwinden gelte. Denn Menschen leben nicht isoliert nebeneinander, sondern sie teilen Lebensräume und Ressourcen, gehen Symbiosen, Allianzen, Konflikte und Heiraten ein.

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Tunesien, Libyen und Ägypten: Medien interviewen Ethnologinnen

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Kritisiert ethnologische "Stammesforschung"

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Tunesien, Libyen und Ägypten: Medien interviewen Ethnologinnen

Seit mehreren Wochen toben sie nun, die Revolutionen in Nord-Afrika, die Rufe nach Freiheit und Demokratie von Millionen von Menschen. Nach dem Fall der Diktatoren in Tunesien, und Ägypten ist nun Libyen an der Reihe.

Ethnologen waren gefragte Interviewobjekte von Journalisten, auch in deutschsprachigen Medien.

Der Standard hat kürzlich die Wiener Sozialanthropologin Ines Kohl über die Rolle der “Stämme” in Libyen und die Zeit nach al-Qaddafi / Gaddafi interviewt.

Sie ist überracht über die Proteste, hätte nicht gedacht, dass es so schnell und so heftig passiert. Obwohl der Unmut in der Bevölkerung in letzter Zeit gestiegen ist. Eine direkte Auflehnung hatte man bisher nicht gewagt:

Begeht jemand Verrat am “revolutionären System”, existieren Kollektivstrafen. Also nicht nur das Individuum wird bestraft, sondern ganze Familien, oder Stämme. Verrat heißt auch: sich gruppieren. Daher ist in Libyen jegliche Freizeitbeschäftigung in Form von Clubs oder Musikveranstaltungen (außer jene des Regimes) untersagt. Zudem existiert ein ausgeprägtes Spitzelwesen unterschiedlicher Geheimdienste, die sich auch gegenseitig kontrollieren. Bis dato hat sich Unmut noch nie offiziell zeigen können.

Sie erklärt auch, warum sie nach Gaddafis Fall keinen Bürgerkrieg fürchtet.

>> weiter im Standard

Ines Kohl hat eine schöne Webseite über ihre Forschung, es hat auch einige Artikel und Papers, besonders über Tuareg in Libyen. Ich hatte sie früher bereits erwähnt, u.a. im Beitrag Feldforschung bei den Tuareg: Makkaroni mit Tomatensauce – monatelang!

Nach dem Sturz von Präsident Zine El Abidine Ben Ali sind tausende Tunesier auf die italienische Insel Lampedusa geflüchtet. Der Tagesspiegel interviewt Ethnologin Heidrun Friese. Wie es der Zufall so will, erforscht sie die Migration nach Lampedusa: Was sind die Wege der Migranten? Was ist die Einstellung der Bevölkerung vor Ort? An mehreren tunesischen Häfen hat sie mit Fischern, Hausfrauen, Jungen und Alten gesprochen, um zu verstehen, warum so viele weg wollen.

Über die Fluchtwelle ist sie nicht überrascht:

Wenn Menschen zwanzig, dreißig Jahre eingesperrt sind und auf einmal sind die Gefängniswärter weg, dann ist es kein Wunder, dass einige die Chance zur Flucht ergreifen. (…) Jetzt freuen sich junge Leute zwar über ihre Revolution, aber besonders die gut ausgebildeten haben nicht mehr die Geduld, auf Veränderung zu warten. Sie wissen: Das kann Jahrzehnte dauern.

Die heutige tunesische Jugend sehe sich als Europäer:

In den Ländern Nordafrikas ist eine Europäisierung von unten zu beobachten. Die jungen Leute leben eine Flugstunde von Italien, Spanien entfernt. Sie nutzen die sozialen Netzwerke, die medialen Informationskanäle. Sie sind längst im modernen Europa angekommen, waren aber im Korsett ihrer korrupten Regime gefangen.

Sie kritisiert die Abschottung Europas von Afrika (“Festung Europa“), warnt vor “linker Revolutionsromantik” genauso wie vor dem rechten Wunsch nach Stabilität um jeden Preis.

>> weiter im Tagesspiegel

Heidrun Friese hat übrigens auch eine schöne Webseite auf http://web.mac.com/hfriese/heidrun_friese/

Dieses im Westen so beiebte Denken “lieber diktatorische Stabilität als demokratisches Chaos” kritisiert Ethnologe Samuli Schielke in einem Interview mit dem DeutschlandRadio

“Dass so was von der Regierung von Amerika und Europa behauptet wird, halte ich für einen moralischen Bankrott”, kommentiert er:

Denn die ägyptische Regierung ist diejenige, die in dem Land für Chaos gesorgt hat und Chaos systematisch als Machtmittel eingesetzt hat. Also ich halte jede Rede darüber, dass Mubarak einen geordneten demokratischen Übergang übersehen sollte, halte ich für eine vollkommene Illusion, weil genau er und seine Machtelite dafür gesorgt hat, dass das Land in Chaos versunken ist. Ich denke, dass die Demonstranten sehr gut in der Lage sind, für Ordnung zu sorgen, die haben sich gerade eine ungesehene spontane Bereitschaft zum organisierten Handeln – also es ist sehr sauber auf dem Tahrir-Platz, der Müll wird gesammelt, es wird alles gut organisiert.


Er kritisiert auch “die ständige Angst, die gegenüber die Muslimbrüder geführt wird”. Diese werde vom Mubarak-Regime gezielt auch geschührt.

Das Wichtigste sei für die Ägypter im Moment nicht, wer das Land regiert, sondern wie das Land regiert wird.

“If this revolution has taught me one thing is that the people of Egypt do not need to look up to Europe or America to imagine a better future”, schrieb er in einem Gastbeitrag auf dem Blog Closer: “Compared to our governments with their lip service to democracy and appeasement of dictators, Egyptians have given the world an example in freedom and courage which we all should look up to as an example.”

Auf http://samuliegypt.blogspot.com/ schildert er seine Eindrücke von der Revolution in Ägypten und auf http://www.samuli-schielke.de/research.htm gibt es jede Menge Papers über die ägyptische Jugend.

Urmila Goel kommentierte die anti-demokratische Haltung des Westens in ihrem Beitrag Europäisches Interesse:

Demokratie – dafür tritt die EU angeblich ein. Die nordafrikanischen Volksaufstände aber zeigen, dass die EU de facto wenig Interesse an Demokratisierung hat. Mit den Diktatoren kann sie ihre Festung Europa viel besser abdichten.
(…)
Europäische (und einige andere Staaten) holen ihre Staatsangehörige aus Libyen raus. Die Libyer_innen aber sind in Europa nicht willkommen. Menschenrechte hängen mal wieder von der Staatsangehörigkeit ab.

Sehr interessant auch die Diskussion im Beitrag “Koloniale Sichtweisen und die Komplizenschaft der europäischen Politik“: Navid Kermani im Interview auf dem Blog Metalust & Subdiskurse Reloaded.

Ägypten: Warum hat der Westen Angst vor Demokratie? fragte ich vor drei Wochen und verwies auf den Kommentar der Ethnologin Katrin Zinoun auf ihrem Blog dialogtexte.

Inzwischen hat sie eine wunderschöne Schilderung der historischen Ereignisse auf dem Tahrir-Platz in Kairo mit vielen Videos ins Netz gestellt

Ich habe eine englischsprachige Uebersichten in den Beiträgen Saba Mahmood: Democracy is not enough – Anthropologists on the Arab revolution part II und “A wonderful development” – Anthropologists on the Egypt Uprising zusammengestellt.

Seit mehreren Wochen toben sie nun, die Revolutionen in Nord-Afrika, die Rufe nach Freiheit und Demokratie von Millionen von Menschen. Nach dem Fall der Diktatoren in Tunesien, und Ägypten ist nun Libyen an der Reihe.

Ethnologen waren gefragte Interviewobjekte von…

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Ägypten: Warum hat der Westen Angst vor Demokratie?

Warum freuen sich die Politiker im Westen nicht, wenn die Ägypter für Demokratie kämpfen? Warum diese Besorgnis über die Sehnsucht nach Demokratie? Diese Fragen diskutiert Ethnologin Katrin Zinoun auf ihrem Blog dialogtexte.

Arabischen bzw. muslimischen Einwanderern wird oft vorgeworfen, dass für sie Demokratie ein Fremdwort sei. “Der Westen stellt sich in dieser Situation gern als Gönner dar, der den armen unterentwickelten Menschen in fernen Weltregionen die Demokratie bringt”, so Zinoun. “In einigen Ländern führen sie sogar blutige Kriege, um die Menschen endlich von unserer wunderbaren Demokratie zu überzeugen.”

Doch gleichzeitig unterstützt der Westen undemokratische Regierungen wie z.B. in Ägypten. Nun, wo die Zukunft Mubaraks gefährdet ist, sind die Politiker besorgt:

Die meisten westlichen Regierungen beobachten die Situation. Und sie sind besorgt – besorgt über die drohende Instabilität und die Auswirkungen auf die eigenen Länder. Sie fordern ein Ende der Gewalt, Durchsetzung von Menschenrechten usw. Aber kein Wort der Freude über die lang geforderte Demokratisierung und das nun endlich ausbrechende Verlangen danach. Keine Forderung nach Mubaraks Rücktritt.

>> weiter bei dialogtexte

“Menschen – nicht Medien – revolitieren, meint derweil Philipp Budka auf dem Blog Initiative Teilnehmende Medienbeobachtung des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie in Wien. “Auch im Zeitalter von Facebook & Co. sind es die Menschen auf den Straßen, die die entscheidenden Handlungen setzen, um „Revolutionen“ herbeizuführen oder eben nicht.”

Kathrin Sharaf ist Ethnologin an der Universität Freiburg und promoviert zu “virtuellen” Freundschaftsbeziehungen Kairoer Jugendlicher. Im Gespräch mit dem Freiburger Stadtmagazin fudder.de erzählt die “Halbägypterin” von der Popularität sozialer Netzwerkseiten im Netz. „Facebook erreicht alle – die Politischen und auch die Unpolitischen“. Die Kinder, die Eltern, selbst die Großeltern pflegen einen Account.

Doch auch sie warnt vor einer “falschen Glorifizierung des Internets”. Es sei nur Plattform für den Frust der ägyptischen Jugend, “selber handeln ist eine ganz andere Kategorie“.

>> weiter bei fudder.de

AKTUALISIERUNG: Nun ist eine erste Uebersicht über internationale Reaktionen von Ethnologen/Anthropologen fertig.

SIEHE AUCH:

David Graeber: There never was a West! Democracy as Interstitial Cosmopolitanism

Jack Goody: “The West has never been superior”

Keith Hart and Thomas Hylland Eriksen: This is 21st century anthropology

Warum freuen sich die Politiker im Westen nicht, wenn die Ägypter für Demokratie kämpfen? Warum diese Besorgnis über die Sehnsucht nach Demokratie? Diese Fragen diskutiert Ethnologin Katrin Zinoun auf ihrem Blog dialogtexte.

Arabischen bzw. muslimischen Einwanderern wird oft vorgeworfen, dass…

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Gefährlicher “interkultureller Dialog” in Jugendbüchern

Vor zwei Jahren gaben Studentinnen der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien das Buch Das Fremde. Konstruktionen und Dekonstruktionen eines Spuks heraus, das auf Seminararbeiten basierte. Soeben ist ein neues Buch mit Seminararbeiten zu diesem Thema erschienen: alltäglich | fremd, herausgegeben von Katharina Leitner und Nicole Czekelius.

Einer der Beiträge setzt sich kritisch mit sogenanntem “interkulturellen Dialog” in der Kinder- und Jugendliteratur auseinander. Mehr und mehr Kinder- und Jugendbücher behandeln das Thema “kulturelle Fremdheit” und Migration.

Susanna Sulig analysiert ein Buch, das für friedvolles Miteinander zwischen Bewohnern Israels und Palästina eintritt und dafür sogar einen Unesco-Preis erhalten hat: Samir und Jonathan von Daniella Carmi. Es handelt um eine Freundschaft zwischen einem palästinensischen (Samir) und einem jüdischen Jungen (Jonathan). Wegen einer komplizierten Knieoperation muss Samir in ein israelisches Krankenhaus gebracht werden. Dort lernt er Jonathan kennen.

Ein offenbar guter Ausgangspunkt für eine Geschichte, die Vorurteile herausfordert und den Konflikt entmystifiziert. Doch das Buch scheint unter ähnlichen Problemen wie manche andere “interkulturellen” Initiativen zu leiden. Obwohl man für “Verständigung wird”, schreibt man Vorurteile über “die anderen” fest. Die Botschaft scheint zu sein: Ja, die anderen sind anders und vielleicht etwas primitiv, doch Freunde können wir trotzdem werden.

Bestehende Fremdheitsverhältnisse werden als überbrückbar gesehen, schreibt Susanna Sulig. Freundschaft zwischen Juden und Palästinensern wird als etwas bereicherndes dargestellt. Soweit so gut. Doch die Autorin, die selber aus Israel stammt und Jüdin ist, verbreite in ihrer Gesellschaft vorherrschende Stereotypen über den Alltag in einem Palästinenserdorf.

Die Verleihung des Unescopreises für Kinder- und Jugendliteratur im Dienste der Toleranz sieht Sulig als nicht gerechtfertigt an.

Die beiden Jungen werden vollständig unterschiedlich dargestellt.

Jonathan taucht vom ersten moment an als leiser, sensibler, interessierter und intelligenter Charakter auf. Er wird nach und nach zu Heldenfigur stilisiert. Samir dagegen ist arm, nicht besonders intelligent, resigniert und stets traurig.

Jonathan gilt als Freund der Wissenschaften, Samir als ein Freund der Magie und des Aberglaubens. Bei ihren ersten Treffen erzählt Jonathan Geschichten von der Entstehung des Universums und des Lebens auf der Erde. Jonathan kann mit einem Computer umgehen und beherrscht Englisch.

Davon weiss Samir alles nichts. Das einzige was er auf Englisch weiss, ist der Anfang aus “Aladin und die Wunderlampe”

“Die Autorin lässt Samir den Beginn von Aladin und die Wunderlampe als eine art Zauberspruch benutzen. Immer wenn Samir Angst hat und Böses abwehren will, spricht er diesen Satz leise vor sich hin”, so Sulig.

Dass Samir in Zusammenhang mit Religion, Aberglauben und Mystik gebracht wird ist nicht zufällig, meint Sullig. Die Gegenüberstellung von Westen =Aufklärung und Wissenschaft und Orient = Aberglaube und Irrationalität widerspiegelt verbreitete Sichtweisen in westlichen Gesellschaften. Edward Said hat dies in seinem Klassiker Orientalism dokumentiert.

Dies ist problematisch: Stereotypen werden von Leserinnen wiedererkannt und damit bestätigt.

Die Autorin erwähnt zwar Ausgangssperren, Unruhen und Militärkjontrollen bettet Samirs Alltag jedoch nicht in einen weiteren politischen Kontext ein. Man erfährt offenbar nichts über die Gründe seines harten Alltags. “So entstehe nur allzu leicht das Bild der verbitterten (palästinischen) Familie auf der einen und der glücklichen (jüdischen) Familie auf der anderen Seite”, kritisiert Sulig.

Einen positiven Beitrag könne das Buch nur leisten, wenn kritisch mit den stereotypen Darstellugen umgegangen würde.

Samir und Jonathan ist übrigens erst spät ins Arabische übersetzt worden, merkt sie an: erst nach Preisverleihung.

Susanna Suligs Artikel ist einer von vielen Beiträgen dieses Buchprojektes, dasin einem studentischen Verlagskollektiv (HammockTreeRecords) verlegt wurde.

Die Artikel entstanden in einem Seminar bei Peter H. Karall am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und wurden in monatelanger Freiwilligenarbeit von Fokus_Irrt, den Herausgeberinnen, den Autorinnen und von Teilnehmenden des HammockTreeRecords Kollektivs bearbeitet und zur Publikation vorbereitet. Siehe auch früheres Interview zum ersten Buch und meine Besprechung des Buches

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Ethnologe: Zuviel Gerede um “das Fremde”!

– Ethnisierung verhindert Frieden

(aktualisiert) Ethnologen: WM-Berichte verbreiten Vorurteile über Afrika

Initiationsriten: Merkwürdige Weisse

Neuperlach: Wie Schule, Eltern und Medien “Ausländerprobleme” schaffen

Ethnologen, raus aus der Kulturfalle!

Populärethnologie von Christoph Antweiler: Heimat Mensch. Was uns alle verbindet

Christians and Muslims: That’s why there is peace

Vor zwei Jahren gaben Studentinnen der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien das Buch Das Fremde. Konstruktionen und Dekonstruktionen eines Spuks heraus, das auf Seminararbeiten basierte. Soeben ist ein neues Buch mit Seminararbeiten zu diesem Thema erschienen:…

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