Schiffauer: "Die Deutschen haben Schuld"
Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Einbürgerungen in Deutschland um mehr als ein Drittel gesunken. Der Rueckgang betrifft besonders türkische Staatsbürger. Das liegt vor allem an den Haltungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sagt Ethnologe Werner Schiffauer in einem Interview mit der Berliner Zeitung:
Die Botschaft, dass man als Muslim, vor allem als rechtgläubiger Muslim, in diesem Land, in dem man aufgewachsen ist und dessen Sprache man spricht, nicht willkommen ist, hat etwas unglaublich Kränkendes. Das führt dazu, dass man sich zurückzieht und zunehmend Angst hat, die türkische Staatsbürgerschaft aufzugeben.
Werden wir die türkische Staatsbürgerschaft nicht vielleicht noch brauchen, nicht jetzt, aber in fünf oder zehn Jahren, wenn sich die Dinge so weiter entwickeln?" - das sind Fragen, die in den Gemeinden diskutiert werden. Es werden auch Erinnerungen an den Holocaust zitiert, die sich etwa an den zum Teil hysterischen Reaktionen auf den Van-Gogh-Mord in Holland festmachen. Es geht bei der doppelten Staatsbürgerschaft nicht mehr wie früher um eine Identitätsfrage, sondern um ein Zurückschrecken aus Sorge um die künftige Entwicklung.
Ein weiterer Grund fuer die sinkende Anzahl von Einbuergerungen ist das Einbuergerungsverfahren. Die Ausländerbehörden, so Schiffauer, reagieren zunehmend zögerlich, wenn es darum gehe, Muslimen die Einbürgerung zu bewilligen:
Der umstrittene Einbürgerungsfragebogen von Baden-Württemberg ist nur die Spitze des Eisbergs, das Misstrauen, das er artikuliert, spiegelt die bundesweite Praxis wider. Die Loyalitätsprüfung zur Verfassung lässt viel Spielraum für individuelle Beurteilungen, sie hat den Einbürgerungsbehörden die Tür weit für einen Abgrenzungsdiskurs gegen Muslime geöffnet.
Diese Anti-Islam-Haltungen gefaehrden Bemuehungen der juengeren Muslime, "die Gemeinden zu reformieren und sie in Europa verankern". Reformpositionen werden von der Mehrheitsgesellschaft oft als Fassade, als Doppelzüngigkeit und Manipulation ausgelegt. Dies bestätige dann wieder diejenigen in den Gemeinden, die der Meinung seind, dass die deutsche Gesellschaft sowieso den Islam nicht akzeptiere, und dass man als Muslim letztlich nur in einer islamischen Gesellschaft leben koenne, sagt er.
Der Ethnologe ist alles anders als gluecklich ueber den Rueckgang der Einbuergerungen:
Wenn sich das bis in die dritte Generation fortschreibt, werden wir eine Bevölkerung haben, die langfristig in diesem Land bleibt, aber von den wesentlichen Aspekten der politischen Meinungsbildung ausgeschlossen ist.
>> zum Interview in der Berliner Zeitung (Link aktualisiert)
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