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Protest gegen Kürzungen: Bald keine Sozial- und Kulturanthropologie mehr an der FU Berlin?

Flyer zur Kundgebung am 14.7.2025
Flyer zur Kundgebung am 14.7.2025 (GEW)

Mein erster Post nach langer Zeit ist alles andere als erfreulich: Der Berliner Senat will weniger Geld für Bildung ausgeben und kürzt drastisch an den Hochschulen. Berliner Hochschulen stehen laut ZDF Heute vor den größten Kürzungen ihrer Geschichte.

“Wegen rigider Kürzungspläne stehen ganze Studiengänge vor dem Aus”, meldet die taz. Unter diesen bedrohten Studiengängen befindet sich auch die Sozial- und Kulturanthropologie an der FU Berlin.

Die Kürzungspläne treffe die Sozial- und Kulturanthropologie besonders hart, sagt Hansjörg Dilger, der dort Professor ist, der taz. Laut FU sollen jedoch alle Fachbereiche seien „gleichermaßen von einer Kürzung von 10 Prozent betroffen” sein.

Doch haben diese zehn Prozent offenbar nicht überall dieselben Konsequenzen. Das Präsidium der Freien Universität Berlin hat nämlich die Streichung der einzigen sogenannten “W3-Professur” des Instituts für Sozial- und Kulturanthropologie vorgeschlagen, die aktuell kurz vor ihrer Nachbesetzung steht, lernen wir auf der Webseite des Instituts. Eine Nachbesetzung der Professur für Psychologische Anthropologie würde auch schon seit drei Jahren ausstehen.

W3-Professoren sind, wenn ich diesen Begriff richtig verstehe, oft Lehrstuhlinhaber, sie sind im Gegensatz zu W1- und W2-Professoren unbefristet angestellt. Durch die Kürzungspläne wäre das Institut gezwungen,  das Bachelor-  oder Master-Studienprogramm  einzustellen. Auch viele laufende Forschungsaktivitäten stünden vor dem Aus.

Wir sehen hier die deutsche Version eines Trends, den es in vielen Teilen der Welt gibt, am prominentesten in den USA (Trumpismus), siehe unter anderem Feindbild Uni (Adefunmi Olanigan, taz 25.4.2025). Die kritischen Sozialwissenschaften, so Dilger zur taz seien “im Moment weltweit und auch in Deutschland unter Beschuss”.

Nicht gerade überraschend trifft es nicht nur die Kultur- und Sozialanthropologie, sondern – wie zum Beispiel an der Uni Göttingen –  die Diversitätsforschung, die dort ihre  Professur verliert.

In einem Offenen Brief der Fachgruppe Geschlechterforschung in Göttingen, den die taz erwähnt, gehörten die Geschlechter- und Diversitätsforschung zu den gesellschaftlich umkämpftesten Fächern – „sie polarisieren, sie stellen Machtverhältnisse infrage, sie haben weniger Rückhalt in konservativen akademischen Strukturen.“

>> zum Text in der taz: Kürzungen an Hochschulen: Kampf gegen das Spardiktat

Heute, am 14.7.2025, war ein Aktionstag gegen die Kürzungen unter dem Motto “Die Hochschulen sind unkürzbar”: “3000 Berliner protestierten am Montag vor der Wissenschaftsverwaltung gegen die Kürzungen”, schreibt der tagesspiegel. Siehe auch eine Info-Seite der FU zu den Kürzungen und Unterschriftensammlung: Offener Brief gegen die Kürzungen an den Berliner Hochschulen
sowie Kürzungen an Hochschulen “Eigentlich sollten alle Studierenden Berlins jedes Wochenende auf der Straße sein” (rbb 11.7.2025)

AUS DEM ARCHIV:

“Die Frage ist, ob die Unis ein Fach wie Ethnologie brauchen”

Uni Bonn schafft Volkskunde / Kulturanthropologie ab

Petition lanciert – Ethnologie in Heidelberg vor dem Aus?

Protestblog und Bilder: Kollaps des Instituts für Sozialanthropologie in Wien

Was ist Ethnologie? Eine schöne Definition

Flyer zur Kundgebung am 14.7.2025

Mein erster Post nach langer Zeit ist alles andere als erfreulich: Der Berliner Senat will weniger Geld für Bildung ausgeben und kürzt drastisch an den Hochschulen. Berliner Hochschulen stehen laut ZDF Heute vor den größten Kürzungen ihrer Geschichte.

“Wegen rigider Kürzungspläne…

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Paywalls überall: Wie kann man sich noch über Sozial- und Kulturanthropologie / Ethnologie informieren?

Bis vor etwa fünf bis zehn Jahren habe ich regelmäßig hier auf antropologi.info über Nachrichten aus dem Fach berichtet. Aufgrund Änderungen privater und beruflicher Natur blieb in den letzten Jahren für die Webseite nur wenig Zeit. Den zahlreichen Corona-Lockdowns sei Dank konnte ich mich wieder mehr meinen Interessen zuwenden, ich aktualisierte die Blog-Software, beseitigte viele tote Links, experimentierte mit einem Open Access Journal Ticker, der die neuesten Artikel von Open Access Zeitschriften anzeigt, lernte auch etwas mehr über Webdesign, Linux und die Open Source Welt.

Anfang des Jahres machte ich einen ernsthaften Versuch, so wie früher mehrmals wöchentlich die Nachrichten nach interessantem anthropologischen Stoff zu durchforsten. Das Resultat: ein knappes Dutzend Blogbeiträge, allerdings nur auf Englisch. Warum?

Klar, ich habe früher auch viele eigene Beiträge wie Interviews, Buchbesprechungen usw geschrieben. Viele Beiträge auf dieser Webseite begannen jedoch mit einer simplen Google-News-Suche. Auf Deutsch bringt dieselbe Suche heute weniger interessante Resultate als früher.

Der Grund: Die meisten deutschsprachigen Zeitungen und auch viele andere Netzpublikationen haben sich vom offenen Internet verabschiedet. Ein Grossteil der Klicks auf die Ergebnisse meiner Google-Suche führt zu Login-Boxen: Nur für Abonnenten! Das betrifft deutschsprachige Publikationen mehr als englischsprachige. Ich müsste Hunderte oder eher Tausende von Euros monatlich für Abonnements aufbringen, um einen ähnlich umfangreichen Überblick wie früher über "Ethnologie in den Medien" bieten zu können.

https://twitter.com/klein0r/status/1386325999650951169

Gleichzeitig sind auch die meisten Forschenden selbst vom offenen Internet verschwunden. Früher gab es viele Anthropologen, die auf Deutsch bloggten – sei es Studierende, Doktoranden oder etablierte Forscher. Eine ethnologische Blogosphäre, in der es wie früher um gegenseitigen Austausch geht, gibt es nicht mehr auf Deutsch. Stattdessen tummeln sich viele Forschende in den weniger offenen Silos der kommerziellen sozialen Medien wie Facebook oder Instagram. Diese Entwicklung machte auch nicht vor dem ersten deutschsprachigen ethnologischen Gruppenblog halt – ethno::log. Ende 2019 erschien dort der letzte Beitrag mit den Worten:

I think it’s time to close the weblog, it’s already sleeping since years. People went to other places online and offline, which is quite natural. It was fun! CU somewhere else.

Die Konsequenz: Unterm Strich finden wir weniger deutschsprachige sozial- oder kulturanthropologische Inhalte im Netz als noch vor zehn Jahren.

Wer auf Deutsch googelt, bekommt weniger interessante Antworten – und vor allem keine fachlichen.

Ein zunehmender Anteil der noch gratis zugänglichen Inhalte im Netz ist mehr oder weniger offenkundige Werbung.

Das betrifft auch Webseiten von Anthropologen. Wer von ihnen heutzutage eine eigene Seite ins Netz stellt oder bloggt, tut dies in vielen Fällen, um sich auf dem zunehmend prekären Arbeitsmarkt möglichst attraktiv darzustellen. Ähnliches kann man über universitäre Einrichtungen, Institute und Organisationen sagen. In denen für sie offenbar so wichtigen Bestrebungen, stets "weltweit führend" und so für potentielle Geldgeber attraktiv zu sein, geht es ihnen in ihren Publikationen immer mehr um Selbstvermarktung als um demokratisch motivierte Forschungskommunikation. Verstärkt wird diese Entwicklung natürlich von den kommerziellen sozialen Medien, in denen nicht nur Institute, sondern auch Einzelpersonen sich als "Brand" vermarkten können.

Bei den Artikeln, die nicht Werbung sind und trotzdem gratis im Netz zugänglich sind, stellen sich andere Hindernisse in den Weg. So gut wie alle Publikationen wollen uns nur ihre Artikel lesen lassen, wenn wir unsere Internetaktivitäten von ihnen und anderen oft dubiosen Akteuren überwachen lassen.

Ich denke, wir sind alle genervt von den Cookie-Bannern. Die meisten Publikationen benutzen Techniken, die "Dark Pattern" genannt werden und in vielen Fällen illegal sind.

Dark Pattern: Ablehnen nicht so leicht möglich. Viele Medien wollen sich unsere Zustimmung zur Überwachung erschleichen

Laut GDPR müssen sie von uns die Zustimmung zur Überwachung einholen. Die Möglichkeit, die Überwachung abzulehnen, geben sie uns jedoch nicht so leicht. Viele Extra-Klicks und ein waches Auge sind notwendig, um nicht auf ihre Tricks hereinzufallen, mit denen sie sich unsere Zustimmung zur Überwachung erschleichen wollen.

Illegal: Vorausgefülltes Ja zur Überwachung der Nutzer bei der Frankfurter Allgemeinen (FAZ).

Manche Publikationen sind hier besonders dreist. Dem Spiegel, der Zeit und dem Standard zum Beispiel reicht die Zustimmung, dass sie uns mit Cookies überwachen dürfen, nicht.

Sie verlangen auch, dass wir sämtliche Browser-Erweiterungen, die uns vor Schad- und Spionsoftware schützen, ausschalten.

Vermutlich auch illegal: Erzwungenes Tracking beim Standard

Wie ich haben eine wachsende Anzahl von Internetnutzern eingesehen, dass es unverantwortlich ist, im Internet ohne Werbe- und Trackingblocker unterwegs zu sein. Uns lassen Der Spiegel, Die Zeit und der Standard erst gar nicht rein. Wir sind Opfer kommerzieller Zensur.

Macht es da noch Sinn – oder Spass-, weiter auf Deutsch zu bloggen?

Die Google News Suche, die mich stets zu Login-Boxen führte, empfinde ich als reine Zeitverschwendung. Und will ich in meinen Blogposts Artikel verlinken, die sich auf mit Trackern verseuchten Webseiten befinden? Solche Fragen habe ich mir in der letzten Zeit oft gestellt.

Auf der anderen Seite: Das Internet ist broken, ja, so ist es. Das Internet als Ort um uneigennützig Wissen zu teilen und vor allem allen Menschen unahängig ihres Geldbeutels Zugang zu Wissen zu ermöglichen – von dieser Vision aus den Anfangsjahren des Internets (Wikipedia ist ein Relikt davon) – haben wir uns so gut wie völlig entfernt.

Auf der anderen Seite, finde ich, sollten wir dieser Entwicklung nicht tatenlos zuschauen. Der Widerstand scheint auch zu wachsen, und auch in der Sozial- und Kulturanthropologie wird inzwischen kritisch zu diesen Themen geforscht, siehe einen Beitrag vom Januar hier auf antropologi.info: Pregnancy and baby apps, smart home devices: Anthropologist shows how surveillance capitalism targets children

Ich werde mich nun mal wieder etwas systematischer im Netz umschauen, wie man sich abseits der kommerziellen Webseiten auf Deutsch über sozial- und kulturanthropologische Forschung informieren kann. Wie sieht es an den Instituten aus? Engagieren sich anthropologische Organisationen? Gibt es gute Zeitschriften im Netz? Und sonst? Podcasts? Youtube-Channels? Für Tipps bin ich immer dankbar.

Bis vor etwa fünf bis zehn Jahren habe ich regelmäßig hier auf antropologi.info über Nachrichten aus dem Fach berichtet. Aufgrund Änderungen privater und beruflicher Natur blieb in den letzten Jahren für die Webseite nur wenig Zeit. Den zahlreichen Corona-Lockdowns sei…

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Was ist Natur? Wer darf über sie bestimmen? Kulturanthropologen erforschen die Rückkehr des Wolfes

Wolf
Spätestens seit 2012 in der Calandaregion der erste Wolfsnachwuchs auf Schweizer Boden nachgewiesen wurde, wird von der “Rückkehr des Wolfes” gesprochen. Foto: ben snaps, flickr

An der Uni Zürich gibt es ein interessantes Forschungsprojekt: Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien zur Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz. Die Rückkehr der Wölfe sorgt für heftige Diskussionen. In der Schweiz wird zu diesem Thema am kommenden Sonntag abgestimmt. Ein neues Jagdgesetz, das u.a. das Abschießen von Wölfen erleichtert, wird dann dem Stimmvolk vorgelegt. Bürgerliche und Rechte sind dafür, Linksgrüne und Umweltverbände dagegen. Naturverbundene PraktikerInnen aus Jagd, Landwirtschaft und Herdenschutz stehen in der Debatte allerdings quer.

Der Beobachter interviewt zwei Teilnehmende dieses Forschungsprojektes, den Kulturanthropologen Nikolaus Heinzer und die Kulturanthropologin Elisa Frank, die ihre Dissertation über die Schweizer Wolfsdebatte schreiben.

Sie erklären, dass trotz der polarisierten Debatte Kompromisse möglich sind.

Auf der einen Seite haben wir die Befürwörter einer Rückkehr des Wolfes. “Der politische Einsatz für den Wolf”, so Heinzer, ist “ein Engagement für die Natur, wie Bio-Produkte zu kaufen. Seine Rückkehr steht für eine Entwicklung als Ganzes, die man fördern will.” Auf der anderen Seite haben wir die Gegner. Der Wolf ist für sie eine oft existentielle Bedrohung, “Solange es in den Alpen keine Grossraubtiere mehr gab, konnten Bergbauern Teilzeit im Tal arbeiten und ihre Tiere sich selbst überlassen”, erklärt Frank. “Der Wolf bedroht diesen Lebensentwurf. Generell wird Bergwirtschaft mit ihm aufwändiger, schwieriger, teurer.”

Es geht also, so die Wissenschaftlerin weiter, um große, grundsätzliche Fragen. Lebens- und Wirtschaftsformen in den Bergen werden in Frage gestellt. Und: Was ist Natur? Wer darf über sie bestimmen?

Hier spielt auch das Verhältnis zum Staat eine Rolle. Heinzer macht einen interessanten Vergleich mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie:

Abstürze oder Blitzschläge sind für [die Schafhalter] akzeptierte Naturgefahren. Sie passieren. Der Wolf nicht. Er ist nur da, weil das andere so wollen. Es ist wie beim Coronavirus. Wer sagt, Pandemien gibt es nun mal, der akzeptiert Einschränkungen. Wer Viruswarnungen als politische Bevormundung empfindet, hingegen nicht.

Gibt es einen Ausweg aus der Polarisation? Ja, meint Elisa Frank. Einen gemeinsamen Nenner von Gegnern und Befürwortern gebe es nämlich:

(…) Dabei sind praktisch alle der Meinung, dass Menschen in den Alpen leben und wirtschaften können sollen. Niemand will menschenleere Berggebiete. Dieser kleinste gemeinsame Nenner sollte die Ausgangslage sein, um unseren Umgang mit dem Wolf zu diskutieren. Klar gäbe es weiterhin Streit um Detailfragen, aber weniger Grundsatzdebatten über Macht und Bevormundung.

>> zum Interview im Beobachter


In einem Aufsatz auf der Wissenschaftsplattform Defacto mit den Titel “Im Schatten des Wolfes” vertiefen die beiden Doktoranden einige Aspekte des Interviews.

Nicht ganz so leserfreundliche Einblicke in ihre Forschung gibt Elisa Franks Artikel “Multispecies Interferences: Taxidermy and the Return of Wolves” in der Zeitschrift Ethnologia Europaea.

Die beiden Forschenden sind auch vertreten in der erst kürzlich erschienenen Anthologie Managing the Return of the Wild. Human Encounters with Wolves in Europe.

Fast gleichzeitig ist noch ein Zeitungsartikel über einen Anthropologen erschienen, der sich für das Thema Wolf interessiert: «Der Wolf bringt immer Aufregung mit sich»: Frauenfelder und St.Galler Filmemacher nähern sich dem Raubtier in einem Kinoessay, meldet das St.Galler Tagblatt. Es dreht sich hier um Beat Oswald, der mit Samuel Weniger einen Film über dasselbe Thema dreht.

Wir lesen:

Was als klassische «Into the Wild»-Erzählung beginnt, ändert sich im Verlaufe des Filmes. Denn obwohl die im Tal lebenden Menschen die Anwesenheit des Wolfs bestätigen, bekommt der Städter diesen nicht zu Gesicht. In Gesprächen mit den Dorfbewohnern merkt er, dass die Geschichten, welche die Menschen über den Wolf erzählen, spannender sind als das Tier selbst.

Der Wolf stehe sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher und globaler Ebene für Veränderung. «Er wird zum Stellvertreter für tiefgreifende Auseinandersetzungen wie etwa die Frage, ob das wahre Leben in der Natur oder in der Zivilisation stattfindet, die Auslotung der Grenzen zwischen Natur- und Kulturraum sowie globalen Themen wie der Klimawandel.»

>> zum Interview im Tagblatt

Diese Forschungen sind Teil einer Richtung, die in den letzten zehn Jahren trendy geworden ist: multispecies anthropology (pdf) – ein Thema, worüber auch viel gebloggt wird.

UPDATE 28.9.2020

Historikerin Aline Vogt hat auf Geschichte der Gegenwart einen interessanten Beitrag über unser Verhältnis zum Wolf geschrieben:

Ein Blick in die Geschichte zeigt aber, dass das Recht des Menschen, Tiere über­haupt zu regu­lieren, nicht selbst­ver­ständ­lich ist. Für die Legi­ti­mie­rung des mensch­li­chen Eingriffs in die Natur spielen viel­mehr histo­risch entstan­dene Ideen von mensch­li­cher und männ­li­cher Über­le­gen­heit eine zentrale Rolle.

Das Jagdgesetz wurde übrigens abgeleht.

Wolf

Spätestens seit 2012 in der Calandaregion der erste Wolfsnachwuchs auf Schweizer Boden nachgewiesen wurde, wird von der "Rückkehr des Wolfes" gesprochen. Foto: ben snaps, flickr

An der Uni Zürich gibt es ein interessantes Forschungsprojekt: Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien zur…

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"Je diverser die Gegend ist, um so weniger hat sie mit Landflucht zu kämpfen"

Jeder will nach Berlin oder München, doch in Chemnitz stehen Wohnungen monatelang leer. In manchen ländlichen Regionen Deutschlands herrschen fast schon “chinesische Zustände”, wo wir fast nur Rentner oder Kinder antreffen. “Der mittlere Teil der Bevölkerung ist dort unterwegs oder abgewandert. Das bedeutet auch, dass der aktive Teil, der kritische und veränderungsbereite Teil der Gesellschaft weggeht. Das Land wird also konservativer und das beschleunigt wiederum die Abwanderung der Jüngeren, die Veränderung haben wollen”, sagt Ethnologe Wolfgang Kaschuba in einem Interview mit dem MDR.

Im Spiegel-Artikel Die Landflucht der jungen Deutschen vom letzten Jahr gibt es interessante Zahlen und Grafiken dazu.

Warum sind manche Regionen so viel attraktiver als andere? Liegt es an Arbeitsplätzen, schöner Natur oder kulturellen Angeboten? Bestimmt, aber nicht nur. Kaschuba bringt weiteren, vielleicht noch wichtigere Faktoren ins Spiel: Freiheit und Vielfalt; die Freiheit sich selbst sein zu dürfen, eine Vielfalt von möglichen Lebensstilen.

Daran hapert es besonders in vielen ländlichen und kleinstädtisch geprägten Gegenden. Hier ist der Konformitätsdruck groß, woran besonders Frauen zu leiden haben. “Landflucht ist weiblich” heißt deshalb die Überschrift des Textes. Es sind vor allem Frauen, die ländliche Räume verlassen, so der Forscher:

Die Kontrollfunktion der ländlichen Gesellschaft wird von jungen Frauen offenbar sehr viel stärker wahrgenommen als von jungen Männern. Wir wissen auch, dass traditionell eingestellte Eltern klassischerweise den Söhnen immer mehr Freiheiten geben als den Töchtern. Heute rächt sich das und gut ausgebildete junge Frauen nehmen sich dann ihre Freiheit. Wir haben eindeutig ländliche Regionen mit einem deutlichen Männerüberschuss. Das heißt auch: es gibt viel zu wenige Frauen für eine Partnerschaft, für Familie, für Ehe.

Wenn man sich die Migrationsströme innerhalb Deutschlands anschaut (siehe Spiegel), wird klar, dass es dabei jedoch nicht immer um Stadt gegen Land dreht, betont der Forscher. Es gibt auch kleine Regionen, die für junge Leute attraktiv sind. Hier ist ist ihm zufolge Diversität ein wichtiger Schlüssel für die Entwicklung der Gesellschaft: “Je diverser, also vielfältiger, eine Gesellschaft ist”, so Kaschuba, “umso eher sind unterschiedliche Lebensstile denkbar und umso mehr Bedürfnisse werden abgedeckt.” Und deswegen, kann ich anfügen, können auch Großstädte wie Chemnitz, die zwar jede Menge billigen Wohnraum und genug Arbeitsplätze anzubieten haben, jedoch kleinstädtisch-provinziell geprägt sind, unattraktiv sein.

>> zum Interview im MDR

Aber vielleicht verändert die Corona-Pandemie die Kriterien? Spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zweifeln mehr Menschen am Traum vom Stadtleben, lesen wie in der WELT.

Wie sieht es aus mit der ethnologischen / sozialanthropologischen Erforschung des dörflichen Lebens? Stadtforschung scheint attraktiver zu sein, zumindest für Forschende aus Deutschland. Siehe den früheren Beitrag: Ein Ethnologe aus Pakistan bei den Deutschen in Sauberteich

SIEHE AUCH:

Was suchen Ethnologen im Unterholz der Metropole? Der Zauber der Stadtforschung

Zentrale Lage, menschenleer: Ausstellung Schrumpfende Städte (Berlin)

Urban anthropologist: “Recognize that people want to come to the big cities”

Jeder will nach Berlin oder München, doch in Chemnitz stehen Wohnungen monatelang leer. In manchen ländlichen Regionen Deutschlands herrschen fast schon "chinesische Zustände", wo wir fast nur Rentner oder Kinder antreffen. "Der mittlere Teil der Bevölkerung ist dort unterwegs…

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Was haben Corona-Hamsterkäufe mit der AIDS-Epidemie zu tun?


Leergeräumt: Egoistisches Verhalten ist gewöhnlich zu Beginn von Krisen. Foto: bazzadarambler, flickr


Nicht nur Virologen sind bei einem Virusausbruch, wie wir ihn derzeit weltweit erleben, gefragt. Auffallend viele Anthropologen (Ethnologen) sind in den Medien präsent. Wie wichtig es ist, das menschliche Verhalten zu verstehen, haben uns ja u.a. die Hamsterkäufe gezeigt. Warum räumen die Menschen die Supermarktregale leer, horten Klopapier, Dosenspaghetti, Seife und Desinfektionsmittel und lassen somit ihre Mitmenschen leer ausgehen? Ist das Verhalten der Menschen noch schlimmer als der Virus selbst?

Für den Medizinanthropologen Hansjörg Dilger ist dieses egoistisches Verhalten gar nicht überraschend. Es ist typisch für den Anfang von Epidemien. Es gibt sogar ein Fachwort dafür sagt er in einem Interview mit der Welt, und zwar soziale Anomie (ein Begriff vom Soziologen Emile Durkheim).

Dilger erkennt bei Corona Muster, die er von anderen Epidemien kennt, u.a. von der AIDS-Epidemie, über die er viel geforscht hat, erklärt er:

Gerade zu Beginn einer Epidemie wissen die Menschen nicht genau, ob sie individuell konkret gefährdet sind und wie eine Ansteckung verläuft; gesicherte Erkenntnisse verbreiten sich erst nach und nach. Bis dahin versuchen die meisten erst einmal, ihren eigenen Schutz zu sichern; dann denken sie an ihr unmittelbares Umfeld und erst danach an den Schutz der Gesellschaft als Ganzes. Diese Reaktion findet man eigentlich bei allen Epidemien.

Ich habe sehr viel zu HIV/Aids im ostafrikanischen Tansania gearbeitet. Dort konnte man sehen, wie gewisse Werte zeitweilig aufgehoben wurden – gerade wenn die Belastungen in den Familien übermäßig waren: Verwandte zogen sich zurück, Patienten blieben auf sich gestellt oder starben sogar alleine. In den Sozialwissenschaften nennt man das “soziale Anomie”: Das heißt, dass Regeln, Normen und Verbindlichkeiten unter solchen Bedingungen teilweise oder ganz außer Kraft gesetzt werden – zum Beispiel der ethische Wert einer Gesellschaft, füreinander da zu sein.

Dieses Verhalten hänge auch damit zusammen, dass uns in Mitteleuropa die Erfahrung fehle, wie bedrohlich solch ein Virus werden kann. “Das haben uns andere Länder voraus; nicht nur die asiatischen”, sagt er. Bislang sei der reiche Norden von Epidemien eher verschont geblieben: “Von hier aus gesehen waren das letztlich immer die Krankheiten der anderen.” Das habe sich völlig verändert.

Eine extreme Gattung der Hamsterkäufer sind die Prepper. Zu ihrem Lebensstil gehört es dazu, sich ständig auf Krisen und Katastrophen vorzubereiten. Julian Genner vom Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg studiert dieses Phänomen. Ihnen geht es nicht nur um Klopapier, sondern auch um das Horten von Ausrüstungsgegenstände wie Gaskocher, Kerzen, Outdoor-Ausrüstungen und Rucksäcke, um gegebenenfalls schnell aus dem Krisengebiet fliehen zu können, infolge einer Medienmitteilung. „Die Popularität dieses Trends passt in eine Zeit, in der viele Menschen eher pessimistisch in die Zukunft blicken“, sagt er.

Die Prepper sind ihm zufolge jedoch nicht für die leeren Supermarktregalen verantwortlich, wie wir im Interview mit der Stuttgarter Zeitung erfahren:

Sicher haben manche Prepper jetzt auch aufgestockt. Aber die meisten lehnen sich zurück und sagen: Ich habe keine Panik. Ich habe von allem genug zu Hause. Ich muss mich jetzt nicht in die Schlange stellen. Ich kann ganz gelassen abwarten, ob die Ausgangssperre kommt. (…)

Diese Leute sagen, Vorbereitung ist eine Form gesellschaftlichen Engagements. Wären alle vorbereitet, müsste jetzt niemand Hamsterkäufe tätigen. Diese Leute sehen Preppen als Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft. (…)

Manche bezeichnen sich ohnehin lieber als Krisenvorsorger. Diejenigen, die es ernst nehmen, grenzen sich von denen ab, die nur hamstern oder sinnlos Dinge anhäufen. Vielen, mit denen ich spreche, ist es wichtig, dass es sich um eine kontinuierliche Auseinandersetzung handelt, dass man Vorräte ständig erweitert oder optimiert, Listen führt und Konserven an der Verfallsgrenze wieder in den Alltag integriert und verbraucht. Und dass man sich überlegt, welche Fähigkeiten man sich noch aneignen sollte: Erste Hilfe, Selbstverteidigung, Feuermachen. Das ist eine echte Freizeitbeschäftigung.

Beide Interviews haben die Medien hinter einer Bezahlschranke versteckt. Ich frage mich: Sollte man sein Wissen mit Akteuren teilen, die es nicht der Allgemeinheit zur Verfügung stellen? Wer übrigens einen Bibliotheksausweis hat, kann die Artikel über genios.de lesen.

Ein weiteres Interview mit Hansjörg Dilger gibt es u.a. in der Zeit, wo er vor Klischees über “die Chinesen” oder “die Asiaten” warnt. Auf dem Blog medizinethnologie.net ist er mit seinen Mitstreitern auch aktiv. Dort sind bereits mehrere Corona Beiträge erschienen. Zum Hören gibt es ein Interview mit ihm im Deutschlandfunk.

UPDATE

Noch ein Ethnologe studiert Prepper: SRF interviewt den Ethnologen Bradley Garrett

SIEHE AUCH:

Der Wert ethnologischer Krankenhausforschung

Interview mit Verena Keck: “Ethnologen notwendig in der AIDS-Bekaempfung”

Why we need more disaster anthropology

Leergeräumt: Egoistisches Verhalten ist gewöhnlich zu Beginn von Krisen. Foto: bazzadarambler, flickr

Nicht nur Virologen sind bei einem Virusausbruch, wie wir ihn derzeit weltweit erleben, gefragt. Auffallend viele Anthropologen (Ethnologen) sind in den Medien präsent. Wie wichtig es ist, das menschliche…

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