Seit mehreren Wochen toben sie nun, die Revolutionen in Nord-Afrika, die Rufe nach Freiheit und Demokratie von Millionen von Menschen. Nach dem Fall der Diktatoren in Tunesien, und Ägypten ist nun Libyen an der Reihe.
Ethnologen waren gefragte Interviewobjekte von Journalisten, auch in deutschsprachigen Medien.
Der Standard hat kürzlich die Wiener Sozialanthropologin Ines Kohl über die Rolle der “Stämme” in Libyen und die Zeit nach al-Qaddafi / Gaddafi interviewt.
Sie ist überracht über die Proteste, hätte nicht gedacht, dass es so schnell und so heftig passiert. Obwohl der Unmut in der Bevölkerung in letzter Zeit gestiegen ist. Eine direkte Auflehnung hatte man bisher nicht gewagt:
Begeht jemand Verrat am “revolutionären System", existieren Kollektivstrafen. Also nicht nur das Individuum wird bestraft, sondern ganze Familien, oder Stämme. Verrat heißt auch: sich gruppieren. Daher ist in Libyen jegliche Freizeitbeschäftigung in Form von Clubs oder Musikveranstaltungen (außer jene des Regimes) untersagt. Zudem existiert ein ausgeprägtes Spitzelwesen unterschiedlicher Geheimdienste, die sich auch gegenseitig kontrollieren. Bis dato hat sich Unmut noch nie offiziell zeigen können.
Sie erklärt auch, warum sie nach Gaddafis Fall keinen Bürgerkrieg fürchtet.
Ines Kohl hat eine schöne Webseite über ihre Forschung, es hat auch einige Artikel und Papers, besonders über Tuareg in Libyen. Ich hatte sie früher bereits erwähnt, u.a. im Beitrag Feldforschung bei den Tuareg: Makkaroni mit Tomatensauce - monatelang!
Nach dem Sturz von Präsident Zine El Abidine Ben Ali sind tausende Tunesier auf die italienische Insel Lampedusa geflüchtet. Der Tagesspiegel interviewt Ethnologin Heidrun Friese. Wie es der Zufall so will, erforscht sie die Migration nach Lampedusa: Was sind die Wege der Migranten? Was ist die Einstellung der Bevölkerung vor Ort? An mehreren tunesischen Häfen hat sie mit Fischern, Hausfrauen, Jungen und Alten gesprochen, um zu verstehen, warum so viele weg wollen.
Über die Fluchtwelle ist sie nicht überrascht:
Wenn Menschen zwanzig, dreißig Jahre eingesperrt sind und auf einmal sind die Gefängniswärter weg, dann ist es kein Wunder, dass einige die Chance zur Flucht ergreifen. (…) Jetzt freuen sich junge Leute zwar über ihre Revolution, aber besonders die gut ausgebildeten haben nicht mehr die Geduld, auf Veränderung zu warten. Sie wissen: Das kann Jahrzehnte dauern.
Die heutige tunesische Jugend sehe sich als Europäer:
In den Ländern Nordafrikas ist eine Europäisierung von unten zu beobachten. Die jungen Leute leben eine Flugstunde von Italien, Spanien entfernt. Sie nutzen die sozialen Netzwerke, die medialen Informationskanäle. Sie sind längst im modernen Europa angekommen, waren aber im Korsett ihrer korrupten Regime gefangen.
Sie kritisiert die Abschottung Europas von Afrika (”Festung Europa“), warnt vor “linker Revolutionsromantik” genauso wie vor dem rechten Wunsch nach Stabilität um jeden Preis.
Heidrun Friese hat übrigens auch eine schöne Webseite auf http://web.mac.com/hfriese/heidrun_friese/
Dieses im Westen so beiebte Denken “lieber diktatorische Stabilität als demokratisches Chaos” kritisiert Ethnologe Samuli Schielke in einem Interview mit dem DeutschlandRadio
“Dass so was von der Regierung von Amerika und Europa behauptet wird, halte ich für einen moralischen Bankrott", kommentiert er:
Denn die ägyptische Regierung ist diejenige, die in dem Land für Chaos gesorgt hat und Chaos systematisch als Machtmittel eingesetzt hat. Also ich halte jede Rede darüber, dass Mubarak einen geordneten demokratischen Übergang übersehen sollte, halte ich für eine vollkommene Illusion, weil genau er und seine Machtelite dafür gesorgt hat, dass das Land in Chaos versunken ist. Ich denke, dass die Demonstranten sehr gut in der Lage sind, für Ordnung zu sorgen, die haben sich gerade eine ungesehene spontane Bereitschaft zum organisierten Handeln - also es ist sehr sauber auf dem Tahrir-Platz, der Müll wird gesammelt, es wird alles gut organisiert.
Er kritisiert auch “die ständige Angst, die gegenüber die Muslimbrüder geführt wird". Diese werde vom Mubarak-Regime gezielt auch geschührt.
Das Wichtigste sei für die Ägypter im Moment nicht, wer das Land regiert, sondern wie das Land regiert wird.
“If this revolution has taught me one thing is that the people of Egypt do not need to look up to Europe or America to imagine a better future", schrieb er in einem Gastbeitrag auf dem Blog Closer: “Compared to our governments with their lip service to democracy and appeasement of dictators, Egyptians have given the world an example in freedom and courage which we all should look up to as an example.”
Auf http://samuliegypt.blogspot.com/ schildert er seine Eindrücke von der Revolution in Ägypten und auf http://www.samuli-schielke.de/research.htm gibt es jede Menge Papers über die ägyptische Jugend.
Urmila Goel kommentierte die anti-demokratische Haltung des Westens in ihrem Beitrag Europäisches Interesse:
Demokratie - dafür tritt die EU angeblich ein. Die nordafrikanischen Volksaufstände aber zeigen, dass die EU de facto wenig Interesse an Demokratisierung hat. Mit den Diktatoren kann sie ihre Festung Europa viel besser abdichten.
(…)
Europäische (und einige andere Staaten) holen ihre Staatsangehörige aus Libyen raus. Die Libyer_innen aber sind in Europa nicht willkommen. Menschenrechte hängen mal wieder von der Staatsangehörigkeit ab.
Sehr interessant auch die Diskussion im Beitrag “Koloniale Sichtweisen und die Komplizenschaft der europäischen Politik“: Navid Kermani im Interview auf dem Blog Metalust & Subdiskurse Reloaded.
Ägypten: Warum hat der Westen Angst vor Demokratie? fragte ich vor drei Wochen und verwies auf den Kommentar der Ethnologin Katrin Zinoun auf ihrem Blog dialogtexte.
Inzwischen hat sie eine wunderschöne Schilderung der historischen Ereignisse auf dem Tahrir-Platz in Kairo mit vielen Videos ins Netz gestellt
Ich habe eine englischsprachige Uebersichten in den Beiträgen Saba Mahmood: Democracy is not enough - Anthropologists on the Arab revolution part II und “A wonderful development” - Anthropologists on the Egypt Uprising zusammengestellt.
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