Die Kontroversen um weibliche “Genitalverstümmelung” eignen sich hervorragend, um ethnologische Einsichten an die breite Bevölkerung zu vermitteln, meint Janne Mende.
Über ihr soeben erschienenes Buch Begründungsmuster weiblicher Genitalverstümmelung. Zur Vermittlung von Kulturrelativismus und Universalismus habe ich mich mit ihr kurz via email unterhalten.
Was hoffen Sie, wird den Lesern bei der Lektüre des Buches durch den Kopf gehen?
– Ich diskutiere in meinem Buch die für Ethnologen und Ethnologinnen zentrale Frage nach dem Umgang mit kulturellen Vorstellungen, die einem Verständnis von Menschenrechten entgegenstehen, das das Glück der Einzelnen hervorhebt. Mir geht es um einen Weg jenseits von einem bedingungslosen Kulturrelativismus, der alles, was als ‘anders’ erscheint, akzeptiert, und jenseits von einem unreflektierten Universalismus, der ohne Kontextbezug und unvermittelt Menschenrechtsideen postuliert.
– Statt in eine dichotome Fragestellung zu verfallen, die nur eine der beiden Seiten als Ausweg kennt, sollen sie als je schon vermitteltes Verhältnis erkannt werden. Dann ist es möglich, repressive von emanzipatorischen Aspekten auf beiden Seiten zu unterscheiden und letztere zu stärken.
Wie vermitteln Sie Einsichten unseres Faches am Beispiel weiblicher Genitalverstümmelung (oder Genitalverstümmelung wie es andere benennen) ?
– Der Umgang mit der Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung / Genitalbeschneidung ist ein höchst kontroverses Thema. Das zeigt sich bereits bei der Schwierigkeit der Benennung. Gerade an den Diskussionen um diese Praxis lässt sich das vermittelte Verhältnis von Kulturrelativismus und Universalismus sehr eindringlich herausarbeiten: Weder haben Abschaffungsbemühungen Erfolg, die ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten vorgehen, noch kann das sehr reelle und dokumentierte Leiden von Mädchen und Frauen ausgeblendet werden.
– Die Notwendigkeit von Kontextualisierungen verdeutlicht sich ebenso wie die Notwendigkeit von einem Maßstab für Kritik, der betroffenen Frauen die Möglichkeit in die Hand gibt, sich gegen repressive Strukturen einzusetzen.
Wie kommen Sie zum Schluss, weibliche Genitalbeschneidung / Genitalverstümmelung müsse abgelehnt werden?
– Ich arbeite anhand zahlreicher Beispiele sieben verschiedene Begründungsmuster für die Praxis heraus. Obwohl sie sich in politischer, sozialer, ökonomischer und psychosozialer Hinsicht stark voneinander unterscheiden können, ist ihnen das Merkmal gemeinsam, dass sie der Herstellung und Anerkennung (kollektiver) Identität dienen. Zu dieser gibt es kaum gangbare Alternativen. Wollen Frauen und Mädchen innerhalb der gegebenen Gesellschaft handlungsfähig bleiben, müssen sie sich dem Eingriff unterziehen.
– Wenn die Praxis nun als Ergebnis freier, autonomer Wahl bezeichnet wird, so wird diese grundlegende Alternativlosigkeit völlig ignoriert. Ein relativierendes Anerkennen der Praxis greift zu kurz und ignoriert das Leiden, das mit dem Eingriff einhergeht.
– Aber auch der ausschließliche Fokus auf eine Abschaffung der Praxis ist unzureichend: Einerseits lässt sich die Praxis kaum aus dem Geflecht von Sinnzusammenhängen herauslösen. Andererseits würden weitergehende repressive soziale Mechanismen und (Geschlechter-) Ungleichheiten bestehen bleiben.
– Da keine Kultur oder Gesellschaft homogen oder statisch ist, stellt sich die Frage, wer und mit welchem Interesse einen Brauch als unentbehrlich bezeichnet. Handlungsalternativen eröffnen sich erst dann, wenn Interessen, Verhaltensweisen und der Zugang zu Ressourcen nicht mehr eng an das Geschlecht, an die Religion oder an das Aussehen der Geschlechtsorgane geknüpft werden. So lang eine wirkliche Entscheidungsfreiheit ohne sozialen, politischen, religiösen oder ökonomischen Druck nicht existiert, darf das Leiden von Mädchen und Frauen an den körperlichen, sexuellen und psychosozialen Folgen der Praxis nicht ignoriert oder den Interessen des Kollektivs untergeordnet werden.
Wie sollen sich Behörden dem Problem gegenüber konkret verhalten?
– Patentrezepte eignen sich angesichts der komplexen Problematik nur bedingt. Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass eine rechtliche Grundlage hilfreich ist, die nicht nur das Engagement gegen Exzision unterstützt, sondern die Frauen und Mädchen in allen Bereichen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, zu Eigentum, zum Arbeitsmarkt usw. ermöglicht, sowie eine Zivilgesetzgebung, die beispielsweise Frauen im Scheidungsfall nicht mittellos lässt.
– Es haben sich vor allem diejenigen Herangehensweisen als erfolgreich erwiesen, die mit den betreffenden Frauen und Männern vor Ort gemeinsam Handlungsstrategien entwickeln. Mit einer kultursensiblen Analyse können Hintergründe und Begründungsmuster der Praxis offengelegt werden. So können vor dem universellen Hintergrund der Verringerung von Leiden angemessene Abschaffungsbemühungen entwickelt werden.
Ethnologin Fuambai Ahmadu kritisiert westliche Kampagnen gegen Genitalbeschneidung. Wie interessant finden Sie Ahmadus Argumente?
– Mit Ahmadu setze ich mich im Buch ausführlich auseinander. Sie bezeichnet ihre eigene Exzision, über deren genauen Ablauf sie vor dem Eingriff informiert wurde, als Möglichkeit, sich zwischen der westlichen Welt und der Welt in Sierra Leone frei bewegen zu können. Sie reflektiert jedoch nicht, dass den Mädchen und Frauen in Sierra Leone genau diese Möglichkeit nicht offen steht. Nicht nur wird dort durch das strikte Schweigegebot ein fundiertes Wissen über die Praxis im Vorfeld verhindert. Zudem legt die Exzision die Frauen auf einen genau abgegrenzten Handlungsspielraum fest. Abweichungen riskieren die Strafe des Verstoßenwerdens.
– Ahmadu untergräbt somit ihren eigenen Anspruch auf eine kontextsensible Vorgehensweise, wenn sie strukturelle Bedeutungs- und Herrschaftsebenen ausblendet. Die Initiation markiert den Eintritt in den Geheimbund der Frauen, Bundo-, Bundu- oder Sande-Gesellschaft genannt. Wenn ein Mädchen sich der Praxis nicht unterzieht und damit nicht in den Bund aufgenommen wird, ist sie in der Gesellschaft praktisch nicht handlungsfähig. Ihr wird der Zugang zu Besitz abgesprochen, ebenso wie ihre Heiratsfähigkeit oder ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären. Die Exzision soll sie zu einer Frau machen, und zwar (wie von Ahmadu ausdrücklich betont wird) zu einer heterosexuellen Frau in einer geschlechterdualistisch organisierten Gesellschaft.
– Sie schreiben in der E-Mail zu mir, Sie möchten ethnologische Einsichten einem breiteren Publikum zugänglich machen. Doch schon auf den ersten Seiten des Buches schlagen Sie zu Worten wie “hypostasieren” und “Präsuppositionen” etc. Ein Widerspruch?
– Fachbegriffe und Fremdwörter schließen ein breiteres Verstehen nicht notwendigerweise aus. Das Buch ist in einer nachvollziehbaren Sprache verfasst, die ihre Leser und Leserinnen nicht unterschätzt. Der sozialwissenschaftliche Anspruch wird so weder untergraben noch esoterisch auf ein kleines, ausgewähltes Publikum beschränkt.
Ihr Buch in einem Satz?
– Es geht nicht um das Recht eines Ansatzes, sei es Kulturrelativismus oder Universalismus, sondern es geht um die kontextbezogene, nicht-repressive, aber dennoch unhintergehbare Verminderung von Leiden.
Letzte Worte an die Lesenden an den Bildschirmen?
– Um ein Vermittlungsverhältnis zwischen zwei scheinbar dichotom sich gegenüberstehenden Momenten herauszuarbeiten, bedarf es der Arbeit am Begriff, einer steten Reflexion, die sich nicht mit dem einmal Erreichten begnügt, und der Kraft, „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ (Adorno)
>> mehr Information beim Transkript-Verlag, wo man auch die Einleitung (pdf) lesen kann
SIEHE AUCH:
Journal Ethnologie 3/2007 über weibliche Genitalbeschneidung in Afrika
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