Soll man einem Rassisten ein Podium bieten? Heisse Debatten wurden vor dem Auftritt des Thilo Sarrazin im Münchner Literaturhaus geführt. Ethnologin und Migrationsforscherin Sabine Hess hat einen offenen Brief verfasst, in dem sie und viele andere Wissenschaftler fordern, die Veranstaltung abzusagen.
In einem Interview mit München-TV sagt sie:
– Klar, es gibt viele, die auf die Debatte setzen, die glauben man könnte diese Art von Thesen sachlich was entgegensetzen. Ich glaube das nicht. Sarrazin hat die Macht, die Medien hinter sich, es ist eine absolut schiefe Debatte. Von daher könnte das Literaturhaus sich durchaus erlauben, die Diskussion anders zu führen und nicht mit dem Herrn selbst.
Die Veranstalter jedoch liessen sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Die Debatte fand statt. Und es scheint, als hätte die Ethnologin Recht gehabt.
Das wird bereits in der Einleitung des Berichtes in der Sueddeutschen klar.
“Die Voraussetzungen für eine sachliche Debatte wären blendend gewesen. Doch am Ende gerieten gutgekleidete Grauköpfe ins Geifern", schreibt Peter Fahrenholz dort. Argumente waren nicht gefragt - und ja, die Debatte war schief, sehr schief:
Da wurde gezischt, gebuht und lautstark dazwischen gerufen, wenn die beiden anderen Podiumsteilnehmer, Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingart und der Soziologie-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Armin Nassehi, es wagten, Sarrazin zu kritisieren.
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Nassehi ging es noch schlimmer, als er auszuführen versuchte, warum Sarrazins These von der biologischen Vererbung von Intelligenz Unsinn sei, weil sich bestimmte Merkmale und Verhaltensweisen sozial vererben würden. “Aufhören"- und “Oberlehrer"-Rufe schallten dem Professor entgegen und als Nassehi dann Thilo Sarrazin einen “Kleinbürger” nannte, der mit einer ungeordneten Welt nicht klar komme, verlor das Publikum endgültig seine Contenance.
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Sarrazin (…) wurde durch seine Fans im Saal so euphorisiert, dass er seine beiden Kritiker auf dem Podium einfach nur anpampte, gewürzt mit einer gehörigen Prise Selbstgerechtigkeit. Keinen einzigen Fehler hätten sie ihm nachweisen können (obwohl sie genau das getan hatten), behauptete Sarrazin und attestierte Steingart “krassen Unfug” zu reden, während er Nassehi vorhielt: “Da haben Sie einfach nur Albernes aus dem Feuilleton vorgetragen".
“Seine Gegenspieler auf dem Podium haben kaum eine Chance", vermeldet auch die Abendzeitung und schliesst mit den Worten: “Dem friedlichen Zusammenleben, in der Halle und in der Gesellschaft, dient die Diskussion nicht.”
Das Literaturhaus München hat weitere Pressestimmen gesammelt, darunter befindet sich eine ausführliche Dokumentation der Debatte im Handelsblatt, ein Radiobericht in Bayern 2 und ein Video vom Bayrischen Fernsehen.
Ende August ist auch ein Protestschreiben gegen einen Auftritt von Thilo Sarrazin im Haus der Kulturen der Welt in Berlin verfasst worden.
Urmila Goel dokumentiert Sarrazins Rassismus ausführlich und verweist auf eine neue Anti-Sarrazin-Initiative: Demokratie statt Integration.
Im Magazin Ethmundo beschreibt Rüdiger Burg Sarrazin als “Tabubrecher”. Doch vermutlich verhält es sich eher umgekehrt. Einen Tabubruch, das stellt heutzutage das Verfechten kosmopolitischer Ideale dar.
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