Interview: Auf Feldforschung unter deutschen Migranten in Sydney
Auswanderparadies Australien: Sydney Harbour Bridge. Foto: Christopher Chan, flickr
Nicht nur Menschen aus weniger reichen Ländern migrieren in die Ferne. In den vergangenen Jahre haben rekordviele Deutsche ihre Heimat hinter sich gelassen. Kulturanthropologe David Johannes Berchem war auf Feldforschung unter deutschen Migranten in Sydney.
Vor wenigen Wochen ist seine Dissertationsschrift Wanderer zwischen den Kulturen. Ethnizität deutscher Migranten in Australien zwischen Hybridität, Transkulturation und Identitätskohäsion in der Reihe “Kultur und soziale Praxis” des transcript Verlages erschienen.
Ich habe mich mit ihm via email unterhalten.
Wie geht es den Deutschen in Australien? Sind sie gut integriert? Wird “Deutschsein” wichtiger in der Fremde? Was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse über die “Ethnizität deutscher Migranten”?
– Kürzlich stellte der Sydney Morning Herald die berechtigte Frage, ob die Hauptstadt von New South Wales eine Metropole der Enklaven sei. Prinzipiell scheint es auch in Sydney nicht außergewöhnlich, wenn zahlreiche Bewohner die Neigung entwickeln, in unmittelbarer Nähe zu ihren sozial, religiös oder ethnisch Gleichgesinnten zu leben. Formen von ethnischer Segregation bzw. nach außen hin isolierten Lebenswirklichkeiten in gated communities oder parallelgesellschaftlich konstruierten Stadtquartieren finden sich sowohl in westlichen Vororten wie Auburn oder Cabramatta als auch an den Northern Beaches.
– Beweise für ethnische Segregation unter deutschen Migranten gibt es jedoch nur ganz wenige. Die von mir untersuchten Wanderer zwischen den Kulturen sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Verständlicherweise leben in der Nähe der German International School Sydney vermehrt deutsche Migranten, die aufgrund ihres Anstellungsverhältnisses mehr oder minder temporär in Australien ihren Lebensmittelpunkt definieren.– Der Erhalt der deutschen Muttersprache besitzt hier einen großen Stellenwert. Insbesondere bei den älteren Auswanderern, die nach dem Zweiten Weltkrieg und in den Jahren der verstärkten Anwerbung von Migranten aus Übersee nach Down Under kamen, spielen Institutionen wie deutsche Kirche, Concordia Club und andere ethnische Interessengemeinschaften eine zentrale Rolle, da diese Anlaufstellen Orientierung in der Fremde gewährleisten. Insbesondere an Heiligabend sind die Räumlichkeiten der Martin Luther Kirche in der Goulburn Street bzw. der Gnadenfrei-Kirche in Chester Hill dem Ansturm der Gottesdienstbesucher kaum gewachsen. Dies liest sich als identitätsstiftende Suche nach bekannten und heimatlichen Zufriedenheitsparametern in der Diaspora.
Fühlen sie sich die hauptsächlich als Deutsche und/oder Australier?
– Deutsche Migranten führen ein Leben in-between. Die Wanderer zwischen den Kulturen sind aufgrund ihres bewegten Daseins alltäglich mit dem liminalen Überschreiten von räumlichen, kulturellen und sozialen Barrieren, Übergängen und Schwellen konfrontiert. Dieser kulturelle Aushandlungsprozess vollzieht sich nicht nach den kategorischen Prämissen eines „Entweder-oder“. Vielmehr lässt sich hier die Tendenz eines „Sowohl-als-auch“ erkennen.
Warum finden Sie das Thema wichtig?
– Das ferne Australien weckte mein Interesse deshalb, weil das Land aufgrund der Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwas vollbracht hat, was man durchaus als multikulturelle Revolution bezeichnen könnte. Unter Multikultureller Revolution verstehe ich sowohl die Abwendung von der auf rassistischen Motiven aufbauenden Ausgrenzungspolitik der White Australia Policy als auch die im Zuge der Einwanderungswellen vollzogene Inauguration und Konsolidierung des ethnischen Pluralismus.
– Zudem finde ich persönlich, dass kulturanalytische Untersuchungen zu Themenfeldern wie etwa diasporische Alltagswirklichkeiten, identitäre Prozessse des placemaking und ethnische Selbstverortungen im Zeitalter der transnationalen Mobilitätsbeschleunigung stets ein ethnografisch generiertes Fundament besitzen sollten.
– In der Forschungsgeschichte der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie gibt es mehrere Untersuchungen, die sich mit alltagskulturellen Phänomenen von im Ausland lebenden Deutschen beschäftigten. Zu nennen sind die Arbeiten von Peter Assion, Brigitta Schmidt-Lauber, Brigitte Bönisch-Brednich und Florian von Dobeneck. Für den Ballungsraum an der Botany Bay versucht meine empirische Studie neue Aufschlüsse zu präsentieren.
David Johannes Berchem in Sydney. Foto: privat
Viele deutsche Migranten sehen Australien als Paradiesland, schreiben Sie. Diese Einschätzung teilen sie mit Migranten aus ärmeren Ländern?
– Das Sehnsuchtsbild vom Paradiesland Australien, in dem vorgeblich Milch und Honig fließen, können wir schon bei den europäischen Elendsauswanderern des 19. Jahrhunderts finden, die sich aufgrund von Mangelwirtschaft, menschenunwürdigen Lebensbedingungen und Verarmutung nach einem Leben in besseren Verhältnissen sehnten. Heute werden uns diese zwischen Realität und Fiktion anzusiedelnden Assoziationen von den paradiesischen Gegebenheiten in erster Linie in Fernsehformaten wie „Goodbye Germany! Die Auswanderer“ präsentiert.
– Lampedusa, Christmas Island oder das Ashmore Reef stellen für zahlreiche „illegale“ Immigranten mit Hoffnungen und Sehnsüchten versehene Lokalitäten dar, deren Erreichen ein zukunftsfähiges Leben abseits von religiöser Verfolgung, Folter und Despotismus verspricht. Zur Absicherung der Außengrenzen sowie zur Konsolidierung der vermeintlichen Wertegemeinschaft wurden an diesen Orten mehr oder weniger effektiv arbeitende Grenzregimes und Zugangsbarrieren installiert. Diese zumeist militärisch gestützten Praxisformen des Migrationsmanagements tragen für die Exklusion von “unerwünschten” Migranten Verantwortung. Hierdurch bleibt für viele Migrationswillige der Wunsch von einem Leben im Paradiesland ausschließlich ein Konstrukt der Imagination.
Ist Ihre Studie relevant für die sogenannte “Zuwanderungsdebatte” in Deutschland / Europa? Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen deutschen Migranten und Zuwanderern in Deutschland?
– In der Nachkriegszeit entschied sich Australien in Anbetracht der geringen Bevölkerungszahlen und der eher schlechten wirtschaftlichen wie organisatorischen Voraussetzungen für ein großangelegtes Anwerbungsprogramm mit dem Namen populate or perish. Einfache Arbeiter, Fachkräfte und anderer Mitglieder der reserve army of labour von Übersee sollten in den Jahren des rasanten ökonomischen Aufschwungs dabei helfen, das Land infrastrukturell zukunftsfähig zu machen. Der Bedarf an Arbeitskräften zur Erschließung der natürlichen Ressourcen war auch am anderen Ende der Welt hoch.
– Australien entschied sich jedoch nicht für das Prinzip der befristeten Aufenthaltsdauer der Immigranten, sondern suchte vor allem Menschen, die die australischen Staatsbürgerschaft annahmen und ihren Lebensmittelpunkt nach Down Under verlegten. Für bestimmte Posten auf dem Arbeitsmarkt – so berichteten mir zahlreiche Gewehrsleute – war die Annahme der australischen Staatsangehörigkeit ein unabdingbares Muss.
– Vielfach gab es bei der Integration zahlreiche Versäumnisse, Missverständnisse und nicht berücksichtigte Möglichkeiten, da die auf Assimilation der Neuankömmlinge an die anglophone Leitkultur abzielende Identitätspolitik im mit nach Australien transportierten kulturellen Gepäck der Migranten eine Gefahr für die imagined community sah. Folglich fanden sich Migranten zunächst in prekären Arbeitsverhältnissen wieder, in denen sie körperlich anspruchsvolle und niedrig entlohnte Tätigkeiten in abgelegenen Gebieten verrichten mussten, obwohl ihnen angesichts ihrer aus Europa mitgebrachten Qualifikationen aussichtsreiche Positionen zugestanden hätten. Soziale Aufwärtsmobilität stand bei den damaligen Integrationsbeauftragten nicht auf der Agenda.
– Die unzureichenden Kenntnisse der Landesprache sowie die soziale Isolation in ruralen Gebieten mit nur geringem Kontakt zur australischen Mehrheitsgesellschaft beförderten nachweislich die Herausbildung von ethnischen Zusammenschlüssen. Dies änderte sich erst langsam mit der Ausrichtung hin zu einer multikulturellen Gesellschaftsform, die sich eine ganzheitliche Teilnahme aller in Australien lebenden Menschen an den sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Institutionen auf die Fahnen schrieb.
Was Sie eben sagten bezieht sich auf die deutschen Migranten in Sydney?
– Ja. Wobei dazu gesagt werden muss, dass die während der Anwerbungsjahre nach Australien migrierten Menschen aus Europa angesichts der gesellschaftspolitischen Zugangsbarrieren größtenteils zu ethnischen Mobilisierungen bzw. zur Fetischisierung ihres kulturellen Erbes in ethnischen communities tendierten. Unfreiwillig gefördert wurde dieser mehr oder minder beabsichtigte Prozess der Selbsteingliederung durch das von australischer Seite zur Anwendung gebrachte migrationspolitische Konzept der Assimilation. Es wurde von den damaligen Beauftragten für Immigration angenommen, dass sich die Neuankömmlinge schnellstmöglich ihrer kulturellen Haut entledigen würden, um zu gut integrierten Australiern zu werden. Jedoch waren diese Vorsätze zum Scheitern verurteilt.
– Zur deutschen Einwanderungsgesellschaft und deren Debatte um Immigration, die ebenfalls umfassende Bestrebungen verfolgt, Menschen mit Migrationshintergrund in assimilatorischer Manier an den deutschen Normalbetrieb heranzuführen, lassen sich somit zahlreiche konvergente Verbindungslinien herstellen.
Sie haben nicht nur neuere Migration nach Australien untersucht. Ihre Erzählung beginnt bereits 1788. Welche neuen Erkenntnisse ergeben sich aus solch einer historischen Perspektive?
– Ich fand es wichtig, sowohl die im Mittelpunkt meiner empirischen Studie stehenden Migrationsdynamiken als auch die Narrative zur Ethnizität deutscher Auswanderer stets vor dem Hintergrund ihrer historischen Dimensionalität nachvollziehbar zu machen. James Cook besaß bei seiner zweiten Weltreise mit Johann Reinhold und Georg Forster zwei deutsche Weggefährten, die ihm bei der Suche nach der terra australis incognita behilflich sein sollten. Spiegeln wir die Wanderungsgeschichte der Deutschen an den relevanten Zeithorizonten, so wird ersichtlich, dass jene Menschen als Entdeckungsreisende, freie Siedler, koloniale Expeditionsleiter, Goldgräber und Religionsflüchtlinge maßgeblich zum Aufstieg der Kolonien beigetragen haben.
– Auch wenn in den Kapiteln zur Geschichte der deutschen Auswanderung nach Australien nur geringfügig neue Aufschlüsse präsentiert werden, war es mir ein Anliegen, strukturelle Generallinien zu destillieren, die in der Menge der Sekundärliteratur zu diesem Thema in der Form nur sehr eingeschränkt zu eruieren sind. In den historischen Kapiteln verfolgte ich die Ambition, ein dynamisches Geschichtsbild zu zeichnen. Es ging mir um die kursorische Präsentation des kulturellen Erbes der deutschen Immigranten, ohne das die gegenwärtigen Verhältnisse nur sehr eingeschränkt verständlich wären.
Auf welche Herausforderungen sind Sie bei der Feldforschung gestossen?
– Im Gegensatz zur Sozial- und Kulturanthropologie gilt die stationäre, zeit- und erfahrungsintensive Feldforschung an den (fernen) Lokalitäten in der Disziplin der Europäischen Ethnologie bzw. in der „alten“ Volkskunde nicht als Selbstverständlichkeit. Dominierend waren hier lange Zeit Untersuchungen zu kulturellen Praxen mit einem regionalen oder lokalen Anstrich (bsp. Karnevalsumzüge, Schützenwesen, Küdinghovener Eierkrone etc.).
– Natürlich stellte es für mich eine ganz eigene Herausforderung dar, in einer graduell fremden Metropole jene methodischen Maxime umzusetzen, die uns Malinowski vorzeiten mit auf den Weg gegeben hat. Jedoch waren es in erster Linie jene Menschen, mit denen ich während meines mehrmonatigen Aufenthaltes in Sydney Zeit verbringen durfte, die maßgeblich die nicht vorhersehbare Eigendynamik meiner Untersuchung beeinflussten.
– Des Weiteren möchte ich die Wesenhaftigkeit der Feldforschung entmythologisieren. Die direkte Kulturerfahrung im Feld beschränkte sich keineswegs nur auf die teilnehmende Beobachtung, das Auffinden von gatekeepers oder die Konsolidierung von Informantennetzwerken. Feldforschung – so desillusionierend sich das jetzt auch anhören mag – war für mich vor allen Dingen Schreibtischarbeit. Die langatmige Verschriftung von Beobachtungsprotokollen und Interviews hat dies mehr als deutlich aufgezeigt.
Was (oder wer) hat Sie während Ihrer Forschung am meisten überrascht / beeindruckt?
– In der Vorbereitungsphase meiner Forschung diskutierten wir im Bonner Doktorandenkolloquium die Frage des Zugangs zum Untersuchungsfeld. Sollte ich zunächst bei der deutschen Zeitung „Die Woche in Australien“ zwecks der Herstellung persönlicher Kontakte ein die Studie initiierendes Praktikum machen? Oder doch direkt ins Feld und nur mit rudimentärem persönlichem Netzwerkwissen ausgestattet nach Sydney fliegen, um gänzlich unbelastet auf die Menschen zuzugehen, deren selbstverständliche und weniger hinterfragte Lebensgestaltung für mich von Interesse war.
– Die zweite Variante erwies sich als praktikabler. Bei diesem Vorhaben kam mir besonders die Gastfreundlichkeit sowie das von persönlichem Interesse an meinem Projekt gekennzeichnete Engagement der Migranten sehr entgegen. Diese Hilfsbereitschaft sowie der stets erkennbare Wille, dem zeitweiligen Besucher ihrer kulturellen Bedeutungslandschaften die Höhen und Tiefen ihrer Lebensgeschichte zu präsentieren, hat entscheidend zum Gelingen meiner Arbeit beigetragen. Ich bin mir bewusst, dass dieses durchweg positive Verhältnis zur Untersuchungsgruppe keine Selbstverständlichkeit darstellt.
Viel Platz räumen Sie der Fachkritik und einer Diskussion über die unterschiedlichen Benennungen des Fachs wie Volkskunde, Völkerkunde, Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie etc ein. Warum?
– Im seinem jüngsten Buch “Anthropology’s World. Life in a Twenty-First-Century Discipline” geht der schwedische Anthropologe Ulf Hannerz unter anderem der Frage nach, wie es um die öffentliche Außendarstellung unseres Faches bestellt ist. Das anthropology-bashing hat nicht nur in den Medien Konjunktur. In Deutschland gelten die Vertreter der Ethnowissenschafen als eine Zusammenkunft bunter Vögel, deren Hauptanliegen darin besteht, Bücher zu Themen zu veröffentlichen, die die Welt allem Anschein nach nicht braucht.
– Gerade weil ein diffuses Wissen über den Zuständigkeitsbereich existiert, waren hier einige mit grundlegender Bedeutung versehene Gedanken notwendig. Es ging mir um die plausible Darstellung der Grundüberzeugung, dass die Art und Weise der Fragestellung, das methodische Rüstzeug und die Wesensart der Ergebnispräsentation dem Fach einen unverwechselbaren Fingerabdruck verleiht. Wir besitzen eine genuine Expertise bei der Untersuchung von Kultur. Vor dem Hintergrund der machtpolitischen Verstrickungen der Volkskunde währen des Nationalsozialismus – auch und insbesondere bei Auftragsarbeiten zu Themen wie Vertreibung, Umsiedlung, Sprachinselforschung und Interethnik – durfte auch an dieser Stelle mit kritischen Worten nicht gespart werden.
Letzte Worte an die Leserinnen und Leser an den Bildschirmen?
– Deutschland oder Australien? Heimat oder Diaspora? Winterliche Schneelandschaften oder Bondi Beach? Bundesadler oder Känguru-Emu-Wappen im Pass? So lauten gegenwärtig die Fragen zahlreicher auswanderungsbegeisterter Menschen. Doch die Zeit der klaren Bekenntnisse war gestern. In der heutigen Multioptionsgesellschaft fallen die Identitäten der Verflüssigung anheim.
– Den Leserinnen und Leser an den Bildschirmen empfehle ich die Lektüre meines Buches deshalb, weil es auf der einen Seite die Geschichten und persönlichen Erfahrungen deutsche Migranten in ethnografisch dichter Weise zur Geltung bringt. Auf der anderen Seite zeichnet die Studie ein perspektivenreiches Porträt, in dessen Zentrum die kulturelle Komplexität von Migrationsdynamiken im Zeitalter der Globalisierung steht.
>> Information über das Buch beim transcript-Verlag
>> Einleitung des Buches (pdf)
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