Cultural Turns - Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften heisst ein neues Buch, das den gegenwärtigen Stand und das Zukunftspotenzial der Kulturwissenschaften kartiert. Ausgangspunkt sind die zahlreichen Theorie- und Forschungs“wenden“ der letzten Jahrzehnte, die hauptsaechlich von der Ethnologie ausgeloest wurden. Die Autorin - die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick hat mich per email auf das Buch hingewiesen und auf meinen Wunsch hin noch ein paar erklaerende Zeilen verfasst:
Cultural Turns - Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften
Doris Bachmann-Medick, November 2006
Die gegenwärtigen Kulturwissenschaften nach dem linguistic turn sind geprägt von vielfältigen Theorie“wenden“. Verbreitet ist zwar weiterhin die „Meistererzählung“ eines umfassenden "Cultural Turn" in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Doch bei genauerem Hinsehen ist es gerade der Wechsel der unterschiedlichen Neuorientierungen, der jeweils disziplinenübergreifende Fokussierungen der Forschung ausgelöst und anregende Untersuchungsperspektiven freigelegt hat: interpretive turn, performative turn, reflexive turn, postcolonial turn, translational turn, spatial turn sowie den iconic turn/pictorial turn.
Ausgelöst wurde die Kette der turns in erster Linie durch die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, besonders durch die amerikanische. Als integratives Brückenfach hat die Kulturanthropologie auch für die anderen Sozial- und Humanwissenschaften wichtige Leitvorstellungen entwickelt, ja eine „anthropologische Wende“ in Gang gesetzt, welche die Kulturanalyse auf die Anerkennung kultureller Fremdheit und Pluralität und auf die Untersuchung kultureller Differenzen in menschlichen Verhaltensweisen gelenkt hat.
Der interpretive turn (vor allem ausgehend von dem einflussreich interpretativen Kulturanthropologe Clifford Geertz, der vor einigen Tagen gestorben ist, und seiner Metapher von „Kultur als Text“) ist eine impulsgebende Neuorientierung. Sie hat die weiteren kulturwissenschaftlichen Forschungs“wenden“ überhaupt erst in Gang gesetzt. Ihre hermeneutische Grundorientierung an einem bedeutungsbezogenen Kulturbegriff hält auch da noch an, wo es zu einer Dynamisierung der Symbolinterpretation im Zusammenhang der ethnologischen Ritualanalysen kommt, die den performative turn (vor allem ausgehend von Victor Turner) mit ausgelöst haben. Inszenierung und Darstellung als wichtige Momente von Handeln und Kultur treten hier in den Vordergrund (Kultur als Performance).
Ein dritter Aspekt, der zu einer „Wende“ geführt hat, ist ebenfalls auf dem Gebiet der Ethnologie enstanden: Die kritische Selbstreflexion des eigenen Schreibens, der Autorität und Macht der EthnologInnen in ihrer Darstellung fremder Kulturen und der Anwendung literarischer-fiktionalisierender Darstellungsstrategien im Zuge eines reflexive/literary turn (vor allem James Clifford) hat auch in anderen Wissenschaften zur Einsicht in die Machtbeziehungen von Repräsentationen geführt – seien es (ethnographische) Monographien, Ausstellungen etwa in ethnologischen Museen oder Kulturbeschreibungen überhaupt. Im Zuge des reflexive turn ist das Vertrauen in objektive Repräsentierbarkeit des „Anderen“ durch wissenschaftliche Darstellung jedenfalls grundsätzlich erschüttert worden (vgl. Krise der Repräsentation).
Die Frage der Produktion von „Wissen“ über die „Anderen“ steht auch im postcolonial turn zur Debatte. Hier ist es zum ersten Mal nicht die Ethnologie, sondern die Literaturwissenschaft, die zur „Leitdisziplin“ wird. Die Ethnologie jedoch erlebt hier eine enorme Herausforderung, vor allem im Zusammenhang ihrer neuen Rolle in einer postkolonialen, globalisierten Welt, in der „fremde Kulturen“ nicht mehr nur Objekte wissenschaftlicher Darstellung bleiben. Auch die anderen turns wie etwa translational turn, der die Ausbreitung der Kategorie kultureller Übersetzung in die kulturwissenschaftlichen Fächer hinein betont (vgl. Kultur als Übersetzung), der spatial turn mit seiner Aufwertung von „Raum“ als Analysekategorie (vgl. Kulturgeographie) und der iconic turn mit seiner Hinwendung zu einer kritischen Bildwissenschaft in enger Anlehnung an die Macht der Bilder in der heutigen Welt sind deutliche Herausforderungen für eine Neubestimmung der Ethnologie.
Deren von vornherein interkulturelle Perspektive und ihr Ansatz an den kulturellen Erfahrungen der Subjekte selbst könnten jedoch dazu verhelfen, all diesen turns einen nicht nur theoriebezogenen, sondern „weltbezogenen“ Reflexionshorizont zu geben. Es gilt, einer „Welt in Stücken“ gerecht zu werden, wie sie schon Clifford Geertz in seinen letzten Jahren zum Ausgangspunkt für eine notwendige globalisierungskritische Weiterentwicklung der Ethnologie genommen hat.
>> Text dazu in der Frankfurter Rundschau (pdf!)
>> Interview mit Doris Bachmann- Medick: Was bedeutet das Auftauchen der sogenannten "Turns" für die Kulturwissenschaften?
>> Rezension in der FAZ
>> Rezension in der WELT (pdf!)
>> Rezension in der Sueddeutschen Zeitung
>> Webseite der Autorin
SIEHE AUCH:
Literaturwissenschaft im Aufbruch. Doris Bachmann-Medick und andere plädieren für eine anthropologische Wende in der literarischen Hermeneutik (literaturkritik.de)
Doris Bachmann-Medick: Ist der ‘cultural turn’ noch eine Herausforderung für die (anglistische) Literaturwissenschaft? Ein Schlußkommentar (Uni Bochum)
Doris Bachmann-Medick: Cultural Misunderstanding in Translation: Multicultural Coexistence and Multicultural Conceptions of World Literature (Erfurt Electronic Studies in English)
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