search expand

"Je diverser die Gegend ist, um so weniger hat sie mit Landflucht zu kämpfen"

Jeder will nach Berlin oder München, doch in Chemnitz stehen Wohnungen monatelang leer. In manchen ländlichen Regionen Deutschlands herrschen fast schon “chinesische Zustände”, wo wir fast nur Rentner oder Kinder antreffen. “Der mittlere Teil der Bevölkerung ist dort unterwegs oder abgewandert. Das bedeutet auch, dass der aktive Teil, der kritische und veränderungsbereite Teil der Gesellschaft weggeht. Das Land wird also konservativer und das beschleunigt wiederum die Abwanderung der Jüngeren, die Veränderung haben wollen”, sagt Ethnologe Wolfgang Kaschuba in einem Interview mit dem MDR.

Im Spiegel-Artikel Die Landflucht der jungen Deutschen vom letzten Jahr gibt es interessante Zahlen und Grafiken dazu.

Warum sind manche Regionen so viel attraktiver als andere? Liegt es an Arbeitsplätzen, schöner Natur oder kulturellen Angeboten? Bestimmt, aber nicht nur. Kaschuba bringt weiteren, vielleicht noch wichtigere Faktoren ins Spiel: Freiheit und Vielfalt; die Freiheit sich selbst sein zu dürfen, eine Vielfalt von möglichen Lebensstilen.

Daran hapert es besonders in vielen ländlichen und kleinstädtisch geprägten Gegenden. Hier ist der Konformitätsdruck groß, woran besonders Frauen zu leiden haben. “Landflucht ist weiblich” heißt deshalb die Überschrift des Textes. Es sind vor allem Frauen, die ländliche Räume verlassen, so der Forscher:

Die Kontrollfunktion der ländlichen Gesellschaft wird von jungen Frauen offenbar sehr viel stärker wahrgenommen als von jungen Männern. Wir wissen auch, dass traditionell eingestellte Eltern klassischerweise den Söhnen immer mehr Freiheiten geben als den Töchtern. Heute rächt sich das und gut ausgebildete junge Frauen nehmen sich dann ihre Freiheit. Wir haben eindeutig ländliche Regionen mit einem deutlichen Männerüberschuss. Das heißt auch: es gibt viel zu wenige Frauen für eine Partnerschaft, für Familie, für Ehe.

Wenn man sich die Migrationsströme innerhalb Deutschlands anschaut (siehe Spiegel), wird klar, dass es dabei jedoch nicht immer um Stadt gegen Land dreht, betont der Forscher. Es gibt auch kleine Regionen, die für junge Leute attraktiv sind. Hier ist ist ihm zufolge Diversität ein wichtiger Schlüssel für die Entwicklung der Gesellschaft: “Je diverser, also vielfältiger, eine Gesellschaft ist”, so Kaschuba, “umso eher sind unterschiedliche Lebensstile denkbar und umso mehr Bedürfnisse werden abgedeckt.” Und deswegen, kann ich anfügen, können auch Großstädte wie Chemnitz, die zwar jede Menge billigen Wohnraum und genug Arbeitsplätze anzubieten haben, jedoch kleinstädtisch-provinziell geprägt sind, unattraktiv sein.

>> zum Interview im MDR

Aber vielleicht verändert die Corona-Pandemie die Kriterien? Spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zweifeln mehr Menschen am Traum vom Stadtleben, lesen wie in der WELT.

Wie sieht es aus mit der ethnologischen / sozialanthropologischen Erforschung des dörflichen Lebens? Stadtforschung scheint attraktiver zu sein, zumindest für Forschende aus Deutschland. Siehe den früheren Beitrag: Ein Ethnologe aus Pakistan bei den Deutschen in Sauberteich

SIEHE AUCH:

Was suchen Ethnologen im Unterholz der Metropole? Der Zauber der Stadtforschung

Zentrale Lage, menschenleer: Ausstellung Schrumpfende Städte (Berlin)

Urban anthropologist: “Recognize that people want to come to the big cities”

Jeder will nach Berlin oder München, doch in Chemnitz stehen Wohnungen monatelang leer. In manchen ländlichen Regionen Deutschlands herrschen fast schon "chinesische Zustände", wo wir fast nur Rentner oder Kinder antreffen. "Der mittlere Teil der Bevölkerung ist dort unterwegs…

Read more

Wissenschaft als “Prachtbildband”: Buch zur Wittenberg-Studie erschienen

Fast drei Jahre lang haben 28 Ethnologen und Soziologen das Leben der Stadt Wittenberge im Niedergang teilnehmend beobachtet. Vor einem guten Jahr wurden die Forschungsergebnisse gross in einer Sonderausgabe der ZEIT präsentiert.

Nun liegt das Buch zur Studie vor. Die Märkische Allgemeine stellt es in zwei Beiträgen vor. ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft heisst das von Heinz Bude herausgegebene Werk.

Die Wittenberg-Forschenden sind in vieler Weise neue Wege gegangen. Sie banden Künstler in den Forschungsprozess ein. Sie vermittelten Forschung via Theaterstücke und ZEIT-Sonderbeilage. Gar nicht so typisch akademisch also.

Das Buch scheint auch alles andere als typisch zu sein. Forschung wird via Essays und Bildreportagen einem breiten Publikum vermittelt.

Als “hybriden Klotz” beschreibt Jan Sternberg in der Märkischen Allgemeinen das 360 Seiten starke Buch, als “Prachtband über Niedergang und Weiterwursteln in Wittenberge” mit “aufwendig gestalteter Bild-Text-Kombination”.

Sein Kollege Andreas König ist nicht besonders glücklich über diese Darstellungsform. Der ungewöhnliche Mix aus Reportagen, wissenschaftlichen Beiträgen, Ausschnitte aus Theaterstücke und längeren Foto-Strecken, schreibt er, mache sowohl den Reiz als auch die Schwäche des Buches aus.

SIEHE AUCH:

Forschungsthema: Wie überleben in Wittenberge?

Das Potenzial der Wirtschaftskrise – Riesen-Forschungsprojekt in Wittenberge zu Ende

Webseite des Forschungsprojektes

Fast drei Jahre lang haben 28 Ethnologen und Soziologen das Leben der Stadt Wittenberge im Niedergang teilnehmend beobachtet. Vor einem guten Jahr wurden die Forschungsergebnisse gross in einer Sonderausgabe der ZEIT präsentiert.

Nun liegt das Buch zur Studie vor. Die Märkische…

Read more

Buch: Wenn Slums zu Touristenattraktionen werden


Ein neues Touristenziel. Foto: Meena Kadri, flickr

Gut betuchte Touristen bestellen organisierte Touren durch Elendsviertel: Ethnologin Eveline Dürr hat das Phänomen Slumtourismus an einer mexikanischen Müllhalde untersucht. Zusammen mit Rivke Jaffe hat sie kürzlich ein Buch zum Thema herausgegeben: Urban Pollution. Cultural Meanings, Social Practices.

Slumtourismus ist besonders durch den Film Slumdog Millionaire bliebt geworden. Was soll man von dieser Art von Tourismus halten? Moralisch zweifelhaft oder eine lehrreiche Erfahrung? Tourismus, von der auch die Armen profitieren?

Hier gibt es keine einfache Antworten, erklärt die Forscherin in einer Medienmitteilung der Uni München.

“Manche Slumbewohner schämen sich ihrer Situation und wollen weder gesehen werden noch Geschenke annehmen”, sagt Dürr. Einige Slumbewohner sind allerdings stolz darauf, dass sich Menschen aus aller Welt für ihre Situation interessieren und profitieren von diser Art von Tourismus.

Auf der Webseite der Uni kann man sich einen 45minütigen Vortrag von ihr zum Slumtourismus anschauen.

Im Netz gibt es einiges zum Thema.

“Ich denke, das Entscheidende bei diesen Fragen ist nicht, OB man eine Favela, ein Projektdorf oder eine soziale Initiative besucht, sondern WIE man dies tut”, schreibt Ethnologin Joana Breidenbach. Angefangen habe der Trend vor 16 Jahren, als Marcelo Armstrong Favela Tours gründete.

Der Spiegel schreibt über Slum-Tourismus in Namibia, der Freitag über Safari ins Elend, und bei fairplanet.net gibt es Links zu Slumtourismus als Armutsporno.

SIEHE AUCH:

Ethnologen: “Heutige Ethno-Shows erinnern an koloniale Völkerschauen”

Headhunting tourism as expression of indigenousness

Ethnologische Tourismusforschung: Das “andere andere” stört

China: Reiche Touristen verdrängen die Naxis?

Antweiler: Fuer mehr Tourismusethnologie! – Neue Ausgabe journal-ethnologie

Ein neues Touristenziel. Foto: Meena Kadri, flickr

Gut betuchte Touristen bestellen organisierte Touren durch Elendsviertel: Ethnologin Eveline Dürr hat das Phänomen Slumtourismus an einer mexikanischen Müllhalde untersucht. Zusammen mit Rivke Jaffe hat sie kürzlich ein Buch zum Thema herausgegeben: Urban Pollution.…

Read more

Stadtethnologie: Münchner Stüberl meets Techno-Underground

Drei Artikel über ethnologische Stadtforschung sind in den vergangenen Tagen in den Medien erschienen. Im Freitag har Ethnologe Johannes Lauer einen wunderbaren Text über seine Forschung in Münchner Stüberl (Kneipen / Beizen) geschrieben. Diese Stüberl sind Orte, an den Stadtteil- und Arbeiterkultur gelebt wird, so Lauer. Vor fünf Jahren hatte er eine Magisterarbeit darüber verfasst, nun hat er die Orte seiner Forschung nochmal besucht.

Die faz bespricht Kosmonauten des Underground von Anja Schwanhäußer – eine ethnologische Studie des Techno-Szene in Berlin, eine völlig andere Welt. Das Buch ist vor einer Weile bereits in der taz vorgestellt worden. Ein ausführliches Interview hat jetzt.de mit ihr geführt.

Dazu passt perferkt der Übersichtsartikel des Deutschlandradios: Im Dickicht der Strassencafes: Ethnologie der Stadt. Ethnologe Wolfgang Kaschuba erzählt hier von neuen Entwicklungen in unseren Städten, von einer grösseren Vielfalt an Lebensformen, Mediterranisierung der Innerstädte und “Urban Gardening”. Sabine Hess, Leiterin der Ausstellung Crossing Munich, erinnert an den Beitrag von Migranten in der Stadtentwicklung. In München erbauten im 18. und 19. Jahrhundert zugereiste Italiener die Paläste der Stadt, im letzten Jahrhundert Gastarbeiter das Olympiastadion und die U-Bahn.

SIEHE AUCH:

Ethnologie- und Kunststudierende stellen riechende Strassen aus

Zentrale Lage, menschenleer: Ausstellung Schrumpfende Städte (Berlin)

Das Potenzial der Wirtschaftskrise – Riesen-Forschungsprojekt in Wittenberge zu Ende

Eine “grossartige” Ethnographie über die Dinge in unseren Wohnungen

“Punk-Gesetz eine Schande” – Kulturwissenschaftler studierten Grazer Punk-Szene

Was suchen Ethnologen im Unterholz der Metropole? Der Zauber der Stadtforschung

Urban anthropologist: “Recognize that people want to come to the big cities”

“Untouched” Amazone hosted large cities – a model for the future?

Drei Artikel über ethnologische Stadtforschung sind in den vergangenen Tagen in den Medien erschienen. Im Freitag har Ethnologe Johannes Lauer einen wunderbaren Text über seine Forschung in Münchner Stüberl (Kneipen / Beizen) geschrieben. Diese Stüberl sind Orte, an den Stadtteil-…

Read more

(aktualisiert) Das Potenzial der Wirtschaftskrise – Riesen-Forschungsprojekt in Wittenberge zu Ende

Fast drei Jahre lang haben 28 Ethnologen und Soziologen das Leben einer Stadt im Niedergang teilnehmend beobachtet. Künstler wurden auch in den Forschungsprozess eingebunden. Das Ergebnis wird heute u.a. in einer Sonderausgabe der ZEIT gross präsentiert.

Die Industrie ist am Ende. “Die Zahl der Einwohner ist von 30.000 auf 18.000 zurückgegangen, und die einzigen Zuzügler sind die Soziologen, die durch die leeren Straßen wandern und beobachten, wie man so lebt in der Stille”, schreibt die ZEIT über Wittenberge, zwischen Hamburg und Berlin im Osten Deutschlands gelegen.

Die «brutale Wahrheit» von Wittenberge. Das Fazit ist düster. Ob die Bürger die Wahrheit ertragen? titelt der Tagesanzeiger. Der Ton in den vielen Zeitungsberichten ist düster. “Noch immer schrumpft die vergreiste Stadt. Im Stadtkern wohnen die Armen, unzählige Häuser stehen leer”, so der Tagesanzeiger weiter. Und: “Die wichtigste Erkenntnis der Wissenschaftler ist: Vom einstigen sozialistischen «Wir» ist in Wittenberge nichts mehr zu spüren.”

Doch all das Negative ist vielleicht nicht das Interessanteste. Spannender wär vielleicht die Frage: Wie gehen die Einwohner mit dem Niedergang um? Die Frankfurter Rundschau spricht dieses Thema kurz an und betont, dass man in Wittenberge keineswegs nur auf Verlierergeschichten stösst.

Es sind neue Perspektiven entstanden, und mit den Soziologen haben die Wittenberger das Potenzial entdeckt, das im Gefühl der Unterlegenheit schlummert. Mit Blick auf Lösungsansätze und Interpretationsangebote geht selbst aus sozialen Brennpunkten oft ein bemerkenswertes soziales Kapital hervor.

(Hier ist Arjun Appadurais Text Deep democracy: urban governmentality and the horizon of politics evt relevant)

In der Stadt wurden die Forscher kritisch beäugt. Manche hatten den Eindruck, die Forscher seien zu sehr auf das Elend fixiert. Die Zeit schreibt:

Einmal, so erzählt der (ostdeutsche) Soziologe Wolfgang Engler, sei ein Stadtforscher mit der Kamera durch Wittenberge gezogen und habe die totesten Stellen der Stadt fotografiert. Und während er weiter ging, merkte er, dass er verfolgt wurde. Ein kleiner Zug von »Eingeborenen«, so Engler, sei dem Mann auf den Fersen geblieben. Er konnte sie nicht abschütteln; sie griffen ihn nicht an, aber sie waren alarmiert; sie wollten sich, so Engler, nicht abfinden mit dem »beschämenden Gefühl, von anderen in der eigenen Misere beobachtet zu werden«.

Wittenberg wurde nicht isoliert untersucht, sondern im europäischen Kontext. Aehnliche Prozesse laufen in anderen Städten ab. Neben Wittenberge gab es verwandte Untersuchungen im pfälzischen Pirmasens und im rumänischen Victoria. Wittenberge, sagt Projektleiter Heinz Bude, gibt es auch in Litauen oder Wales.

Das Forschungsprojekt hat eine informative Netzseite http://www.ueberlebenimumbruch.de/

AKTUALISIERUNG (5.3.10): Die Elends-Berichte nehmen kein Ende in den Zeitungen. Doch Projektleiter Heinz Bude sagt in einem Gespräch mit der Schweriner Volkszeitung: “Das soziale Drama ist das falsche Bild. Wir haben viele Formen gefunden, wie Menschen hier ihr Leben meistern.”

Nun sind längere Texte auf der Webseite der ZEIT zu lesen, v.a. der spannend geschriebene Artikel Zum Beispiel Wittenberge. Hier erfahren wir mehr über das Doktorgradsprojekt der Ethnologin Anna Eckert. Große Teile ihrer Doktorarbeit zur Lebensführung in der Erwerbslosigkeit basieren auf der Analyse vom Leben einer Hartz-IV-Empfängerin, die sie “Inge” nennt:

Inges Biografie ist eine der typischen Geschichten, die der Umbruch geschrieben hat. Bis zur Wende arbeitete die gelernte Schlosserin im Nähmaschinenwerk, seitdem hatte sie außer einigen Ein-Euro-Jobs keine Arbeit. »Zukunft« ist für Inge schon lange keine Kategorie mehr. Seit Jahrzehnten bleiben die Chancen aus, Gelegenheiten haben sich nie ergeben, es eröffnete sich keine Perspektive. Ihre Arbeit ist verschwunden. Und sie kommt nicht wieder.

Inge weckt sich jeden Morgen um fünf Uhr. Es beginnt ein strikt durchorganisierter Alltag. Das Ziel: Zeit verbrauchen. (…) Fragt man die Hartz-IV-Empfängerin nach ihren Träumen, so hat sie keine. Fragt man sie nach Dingen, die ihr wichtig sind, zuckt sie mit den Schultern. Nach einer langen Pause sagt sie »mein Partner«.

Wir lesen ausserdem:

Ob es »Gewinner«, »Verlierer«, Kleingärtner, Unternehmer, Rentner oder Fernfahrer waren, die interviewt wurden – eines zieht sich durch alle Forschungsergebnisse. Das ist die wichtigste Erkenntnis der Wissenschaftler: All diese Gemeinschaften stehen wie Säulen nebeneinander, der Umbruch der Wende hat das organische Ganze der Stadt zersprengt. Seitdem ist der Ort in Gruppen zerteilt, die sich mehr oder weniger deutlich und scharf nach außen abgrenzen. (…) Im Unterschied zu anderen strukturarmen Gegenden im Westen von Deutschland wiegt in Wittenberge das Gewicht der Vergangenheit schwer. Der Kontrast zum einstigen, sozialistischen »Wir« lässt die heutige Zersplitterung der Gesellschaft umso tiefer und stärker spürbar werden.

>> weiter in der ZEIT

Eine gute Idee: Das ZEITmagazin bat die Forscher, 25 zentrale Beobachtungen über die Stadt zusammenzustellen

SIEHE AUCH:

Forschungsthema: Wie überleben in Wittenberge?

Dissertation: When the power plant, the backbone of the community, closes down

Zentrale Lage, menschenleer: Ausstellung Schrumpfende Städte (Berlin)

Urban anthropologist: “Recognize that people want to come to the big cities”

Anthropologist studied poor fast food workers in Harlem

Fast drei Jahre lang haben 28 Ethnologen und Soziologen das Leben einer Stadt im Niedergang teilnehmend beobachtet. Künstler wurden auch in den Forschungsprozess eingebunden. Das Ergebnis wird heute u.a. in einer Sonderausgabe der ZEIT gross präsentiert.

Die Industrie ist…

Read more