antisemitismus und ethnologie: jeder stoß ein franzos?

nichtidentisches ⌂ @, Mittwoch, 03.10.2007, 17:51 (vor 6259 Tagen) @ Henry Maine

» Welcher namhafte Antisemitismusforscher behauptet denn, dass
» Lévi-Strauss-Antisemit war>

Keiner, soweit ich weiß. Und auch ich würde das nicht behaupten. Ich bin kein Anhänger der These vom "strukturellen Antisemitismus", weil das häufig zu verkürzten Gleichsetzungen und dem Abtasten von Oberflächen ohne Prüfung der Realität führt. Dennoch gibt es ideologische Segmente, die etwa mit "deutscher Ideologie" zu fassen wären und denen der Antisemitismus von je aufsitzt. Darunter ein romantisch-völkischer Konservatismus, eine romantische Zivilisationskritik, die ich bei Leví-Strauss durchaus ausmachen würde. Anküpfungspunkte für Alain de Benoist nicht von ungefähr.

» Hast du eigentlich die deutsche oder die französische Ausgabe gelesen>
» Poste doch mal das Zitat zur Überbevölkerung.

1. zentraler "Fauxpas"

"außer in den Konzentrationslagern sind Menschen wohl niemals in diesem Maße mit Schlachtvieh gleichgesetzt worden." (S. 119)

Außen vor bleibt, dass hier Menschen aus ihrem innersten Antrieb freiwillig hinkommen. Dass in Vernichtungslagern nicht einmal "Schlachtvieh" trifft, denn es wurde mehr investiert in die Vernichtung, als man noch aus den Menschen an Goldzähnen herausdrosch. Auf S. 120 Spenglersche Dekadenztheorien.
Hier das zur Überbevölkerung:
"Freiheit ist [...] vielmehr das Ergebnis einer Objektiven Beziehung zwischen dem Individuum und dem Raum den es einnimmt, zwischen dem Verbraucher und den Ressourcen, über die er verfügt. Dabei steht nicht einmal fest, ob das eine das andere ausgleicht, oder ob eine reiche, aber zu dicht bevökerte Gesellschaft sich an dieser Dichte vergiftet wie jene Mehlwürmer, denen es gelingt, durch ihre Giftstoffe einander auszurotten, noch ehe es an Nahrung mangelt." (S. 140) Und im Anschluss:
"Dieser große Mißerfolg Indiens ist uns eine Lehre: leben in einer Gesellschaft zu viele Menschen, so kann sie, trotz des Genies ihrer Denker, nur weiterbestehen, wenn sie Knechtschaft ausschwitzt. [...] In diesem Licht gesehen, kann ich die Ereignisse, die seit zwanzig Jahren auf der Bühne Europas stattfinden und ein Jahrhundert resümieren, in dessen Verlauf seine Bevölkerung sich verdoppelt hat, nicht mehr als Folge der Verirrung eines Volks, einer Doktrin oder einer Gruppe von Menschen sehen." (S. 141)

Genau das ist der Erdkundebuchinhalt 8.ter Klassen wie auch der Malthusianismus, den Marx zerlegte: Knechtschaft und Armut seien aus Überbevökerung entstanden. Dieses Element bringt neurechte Denker dazu, die Atombombe wie Herbert Gruhl als möglichen Segen gegen die allseits drohende Überbevölkerung zu wähnen.

» Beim Buch "Traurige Tropen" ist aber nunmal so, dass es die "Eingeborenen"
» Südamerikas zum Gegenstand hat. Der Vorwurf, dass dort der
» Nationalsozialismus nicht genügend behandelt wird, ist also nicht ganz
» nachvollziehbar. Du könntest auch Malinowkis "Die Argonauten des
» westlichen Pazifik" vorwerfen, nicht auf Antisemitismus einzugehen. Das
» wäre aber absurd.

Nein, denn erstens behandelt er nur auf etwa einem Drittel des Buches überhaupt Südamerika, der Rest ist Indien und allgemeinphilosophischen Überlegungen gewidmet und zweitens mache ich ihm nicht zum Vorwurf, den NS "nicht genügend zu behandeln", sondern ihn zu verzerren hin zu einem logische-strukturellen Problem der Überbevölkerung oder der "statischen Gesellschaften." Da geht LS wirklich (entgegen anderen weitaus durchdachteren Überlegungen an anderer Stelle) das Besondere im Allgemeinen auf.

» Du meinst, man solle die nazistischen und/oder antisemitischen
» Völkerkundler wie Hermann Baumann oder Pater Wilhelm Schmidt nicht
» kritisieren, sondern sich erstmal Funktionalismus und Strukturalismus
» vornehmen.
» Warum diese Theorien notwendig Antisemitismus und "völkisches Denken"
» beinhalten sollen, bleibt total im Dunkeln. Ist "Die elementaren
» Strukturen der Verwandtschaft" ein zweites "Mein Kampf">
» Gerade bei Émile Durkheim, Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss, die sich
» z.T. auch aktiv gegen Antisemitismus und Rassismus engagiert haben,
» erscheint das etwas aberwitzig.

Das Engagement gegen das Offensichtliche schützt nicht über den Irrtum über das Abstrakte. Sonst könnte man jedem Antirassist seinen notorischen Antisemitismus verzeihen, den er als Antizionismus vor sich selbst maskiert.

» Ist der 2. Weltkrieg unerklärbar> Wenn ja, dann kann es gar keine
» Forschung dazu geben.

Doch. Es gibt ja auch eine Astrophysik, obwohl sicherlich niemals jemand den Sinn des Universums verstehen wird. Auschwitz zu verstehen, heißt es zu rationalisieren. Das Unbegreifliche erklären zu wollen, es darzustellen und so viel als mögliche Ursachen aufzuzeigen heißt noch nicht, ein Verständnis dessen zu behaupten. Es bleibt bei allen Erklärungsversuchen der Wahnsinn mitzudenken.

» Die Existenzphilosophie von Sartre und einige Postmoderne beziehen sich
» auf Heidegger. Ich glaube aber nicht, dass in diesem Buch (das ich nicht
» kenne) Lévi-Strauss vorkommt. Der hat mit beiden Strömungen nichts zu tun.

Vermittelt. Levi-Strauss kommt ansatzweise vor. An einer anderen Stelle eines Interviews mit Levi-Strauss werden die Kontakte zu Heideggerianern der übrigen Strukturalisten erwähnt. Das macht es noch nicht verwerflich, einen Autor zu verwenden. Jedoch sollte es als Strömung mitgedacht werden und subtile Einflüsse haben sicherlich stattgefunden, welcher Art wäre zu erörtern - Wie Strukturalismus sich generell zur Ontologie verhält müsste ich hart arbeiten, um die philosophischen Dimensionen zu klären. LS ist nicht dumm, das möchte ich keinesfalls behaupten. In weiten Teilen trifft er sich mit der kritischen Theorie. In vielen anderen auf manchmal mehr, manchmal weniger exzellente Weise nicht. In wenigen Stellen treffen Abstürze ein, die nicht hinzunehmen sind - und Kritik verdienen.

» Du kannst aber nicht fordern, dass jede ethnologische Veröffentlichung
» Antisemitismus zum Thema haben soll, weil nicht die ganze Welt aus
» Antisemitismustheorien heraus erklärt werden kann.

Ein weitestgehendes Verständnis des Antisemitismus ist auch ein weitgehendes Verständnis vom Menschen, weil der Antisemitismus das gesellschaftliche Rätsel der Moderne schlechthin ist. Insofern ist es fatal, ihn zu übersehen oder als randständigen Extremismus zu verharmlosen. Der Durchschnitt der deutschen Gesellschaft ist latent antisemitisch. Das hat Rückwirkungen auf die Forschung.

» Ich lese zwar meistens auch lieber ethnologische Bücher aus dem
» englischsprachigen Raum, aber die Einteilung in dumme französische und
» deutsche Ethnologie im Gegensatz zur klugen us-amerikanischen und
» britischen finde ich dann doch etwas zu simpel.
» Es ist doch besser jeden Autor für sich zu bewerten.

Das ist sicherlich richtig. Da habe ich zu vorschnell vereinfacht.

» Emisch und etisch meinst du wohl>

Verflixt...


» Ja, genau. Warum hat man Kannibalismus immer nur "den Anderen", also den
» Juden und den "Wilden" zugeschrieben>

Hat man nicht. Die Menschenfresser-Ache behaupten von sich selbst recht stolz Menschen aufgegessen zu haben und die Guarani fraßen wohl laut Münzel ca 60000 Indianer auf dem Chaco auf - was sie selbst freimütig bestätigten. Kannibalismus ist keine unübliche und nicht notwendig eine "skandalöse" Erscheinung. Ich finde da Münzels Erklärung bei einigen Ethnien recht interessant, dass Kannibalismus als "Ehrerbietung" stattfand: Den Feind nicht zu verspeisen hieße ihn für minderwertig zu erklären. Inwieweit Kannibalismus "skandalisiert" wird, gibt Aufschluss über die Projektionen der jeweiligen Gesellschaft. Ab wann ein Mensch kannibalisiert wird, ist doch relevant, die afrikanischen Menschenfleischjäger erregten bei ihren Opfern oft grenzenloses Entsetzen, das ein menschliches und nachvollziehbar ist: Menschen werden zu Jagdwild gemacht. Das rituelle Verspeisen der im Kampf Gefallenen nach der Schlacht dagegen ist wohl kaum ein Zeichen von "besonderer" Rückständigkeit - die Eucharistie ist nichts wesentlich anderes.


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