Was ist los in Tibet? Es ist nicht einfach, sich ein Bild zu machen. Berichterstattung und Meinungen zum Konflikt haben viel mit Ideologie zu tun, mit romantischen Vorstellungen ueber Tibet oder China sowie mit anti-China-Kampagnen (USA-gesteuert?). In letzter Zeit mehrten sich kritische Stimmen zur Berichterstattung in den Medien, die man als eher pro-Tibet als pro-China bezeichnen kann.
Kuerzlich sagte Ethnologe Koen Wellens in eine Interview mit Uniforum (Blatt der Uni Oslo), dass die Demonstrationen der Tibeter in Lhasa nicht politisch motiviert waren, sondern Ausdruck von Hooliganismus seien. Diesen Eindruck hinterlaesst auch ein Bericht in der taz:
Sie begannen, mit Steinen auf chinesische Geschäfte zu werfen. Manchmal wussten sie nicht, ob ein Geschäft Chinesen oder Tibetern gehörte. Im Zweifel schlugen sie trotzdem zu.
Ein anderer Ethnologe - Ingo Nentwig - hat in letzter Zeit Aufsehen erregt (u.a. in China Daily) mit seiner Behauptung “Die tibetische Kultur blüht und gedeiht in China”. Im Interview mit German Foreign Policy sagt er:
China hat eine gigantische Produktion an Büchern, Zeitungen und Zeitschriften in tibetischer Sprache, es gibt zahlreiche tibetische Verlage, nicht nur in Tibet, sondern auch in den angrenzenden Provinzen und sogar in Peking - die Tibetologen sind gar nicht in der Lage, das alles wahrzunehmen.
Tibetische Schriftsteller schreiben auf Tibetisch und auf Chinesisch. Sie können nicht nur tibetische Literatur kaufen, sondern auch tibetische Übersetzungen zum Beispiel von Shakespeare, Hugo und Balzac. Es gibt eine Akademie für traditionelle tibetische Medizin in Lhasa. Das berühmte Gesar-Epos, die wichtigste mündliche Überlieferung der Tibeter, wird umfassend erforscht. Sänger dieses Epos’, die stundenlang, teilweise tagelang vortragen, werden hofiert und dokumentiert. Von irgendetwas wie “kulturellem Völkermord” kann überhaupt keine Rede sein.
Nur bei der Religion gebe es Einschränkungen:
Allerdings betrifft es nicht die einfache Religionsausübung. Jeder Tibeter kann seinem buddhistischen Glauben nachgehen, ohne dabei behindert zu werden. Religiöse Funktionsträger aber, die versuchen, oppositionelle Politik zu machen, bekommen Schwierigkeiten. Die Forderung nach der Unabhängigkeit Tibets wird strafrechtlich verfolgt, was mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung nicht in Einklang zu bringen ist.
Die Behauptung, Tibet wuerde von Han-Chinesen “ueberschwemmt", sei auch falsch. In der Hauptstadt Lhasa gebe es sicherlich sicherlich mehr als 50 Prozent. Ausserhalb Lhasa verlassen wuerden einem kaum noch Han-Chinesen begegnen. Mehrere Gebiete, in denen Tibeter leben seien schon immer “multiethnische Gebiete” gewesen.
Es gebe viel Spielraum für Verbesserungen, sagt er:
Man soll China durchaus kritisieren. Man soll das aber konkret und auf der Grundlage von Sachkenntnis tun und nicht einfach dummes Zeug reden.
(…)
Ich würde wagen zu sagen, dass Indien jeden Monat in Kaschmir mehr Menschenrechtsverletzungen begeht als China in den letzten zehn Jahren in Tibet. Sie brauchen nur in die Zeitung zu schauen, wie unterschiedlich die Darstellung ist.
Das rechtfertigt natürlich nichts von dem, was in China passiert, und ich kritisiere das scharf. Aber die Verhältnismäßigkeit ist in der medialen Darstellung überhaupt nicht mehr gegeben. Da kann ich dann auch die chinesische Regierung verstehen, dass sie sich unfair behandelt fühlt, weil der Westen auf ihr in einem Ausmaß rumhackt, das sie wirklich nicht verdient hat.
>> weiter zum Interview in Germa Policy
In einem Interview mit JungeWelt betont er die Vielfalt an Meinungen unter Tibetern:
Ich habe im Rahmen meiner Feldstudien mit Hunderten Tibetern gesprochen, darunter auch mit etlichen Mönchen. Deren Haltungen und Meinungen in puncto Politik sind so heterogen, wie sie nur sein können. Die einen mögen die Chinesen nicht, wenden sich aber dennoch gegen eine Unabhängigkeit. Andere kommen außerordentlich gut mit den Chinesen zurecht, wieder andere wollen sich von China lossagen. Das Bild von den guten Tibetern und den bösen Chinesen ist plumpe Schwarzweißmalerei.
(…)
Nach meinem Gefühl besteht aber gerade bei der einfachen Landbevölkerung, die den Großteil des tibetischen Volkes stellt, eine große Mehrheit für den Verbleib Tibets im chinesischen Staatsgebiet. Entsprechend gut ist dort auch das Verhältnis mit den Han-Chinesen. Auf antichinesische Einstellungen stößt man vornehmlich bei den Eliten.
Ingo Nentwig hat auch eine Webseite, die jedoch schon lange nicht mehr aktualisiert wurde.
Siehe auch das taz-Special zu Tibet und den Kommentar Protestaktionen für Tibet - Qui bono? von Claus-Dieter Stille auf Readers Edition. Wie immer lohnt sich die Lektuere auf GlobalVoices zu Tibet
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